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Beziehungsfähigkeit
Harald Römer

Fotocopyright: Harald Römer

Von der Beziehungslosigkeit zur Beziehungsfähigkeit

 

Interview mit Gerard Thevox, Theologe und Erzieher im Rehabilitationszentrum CH-Toulourenc, Troinex/Genf. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern.

Ist es vorstellbar, dass unsere Gesellschaft mit der Geißel der Droge fertig wird?

Nein, dies ist illusorisch. Erst im Reich Gottes werden die Leiden, welche im Zusammenhang mit Drogen entstehen, ausgerottet sein

Was ist die Wurzel der Drogensucht?

Der Drogenkonsum ist Ausdruck einer gewünschten oder erlittenen Abhängigkeit; ein Symptom kollektiven oder individuellen Lebensstils, in dem die äußerste Form der Abhängigkeit dominiert.

Diese Abhängigkeit könnte demzufolge auch andere Formen annehmen?

Ja. Der Drogenkonsum ist lediglich eine der möglichen Ausdrucksformen. Es gibt zahllose andere Ebenen, wo man abhängig werden kann: ideologische, politische, soziale, affektive, kulturelle oder geistige. Nicht nur die Drogenabhängigen, sondern unsere ganze Gesellschaft braucht Heilung.

Das bedeutet, Abhängigkeit ist nicht ausschließlich körperlicher Natur...

Wird jemand drogenabhängig, so unterwirft er sich der Autorität des Produkts. Die Beziehung zum Stoff ist wichtiger als der Reiz der halluzinogenen Auswirkungen. Gleichzeitig zeigt sich in der Flucht in die Droge die Schwierigkeit, Selbstverantwortung übernehmen und tragen zu können. Denselben Mechanismus finden wir in vielen anderen Verhaltensweisen unserer Gesellschaft.

Anders ausgedrückt: Man sucht eine Zufluchtsstätte, die nach einiger Zeit zum Gefängnis wird?

Der Stoff hilft, die Bürde des Lebens zu tragen. Das «Medikament» behandelt den «Konsumenten». Es ist die Abwesenheit eines Gegenübers, das Fehlen einer harmonischen Beziehung, die ihn erdrückt. Die Folgen sind Verzweiflung, Depression, Einsamkeit, Verlassenheit und der Wunsch nach Rache. Und diese Reaktionen wiederum machen die Betroffenen mehr und mehr beziehungsunfähig.

Was bewirkt dann die Droge?

Menschen, auf die niemand zugegangen ist und die niemand begleitet hat, weder in der Kindheit noch in der Schulzeit, suchen einen «anderen», dem sie folgen können. Oft finden sie ihn in der Abhängigkeit vom Heroin, ein mächtiger, aber auch betrügerischer «anderer». Für sie gilt: Lieber jemanden haben, dem man folgen kann, als die Leere der Einsamkeit ertragen zu müssen. Doch eines Tages sind sie dieses «anderen» überdrüssig. Sie haben es satt, dem eben noch geliebten Gegenüber nachlaufen zu müssen, Sklave geworden zu sein. Sie sind enttäuscht und desillusioniert von der Fata Morgana. Sie fühlen sich plötzlich erschöpft und wünschen sich ein neues, nicht todbringendes Gegenüber. Sie wollen und müssen sich von dieser Bindung - die zum Beruf geworden ist - lösen, den Vor- und Nachteilen der Versklavung absagen, sich weigern, ihrem Meister weiter zu folgen.

Durch die frohe Botschaft, das Evangelium von Jesus Christus entdecken sie eine Existenz, die von Zwängen befreit. Sie hören von echter Jüngerschaft.

Jünger… heißt das nicht gerade Nachfolger?

nger heißt Lernender. Es beinhaltet, zu sich selbst stehen, Verantwortung übernehmen und den Mitmenschen begegnen lernen. «Ich bin bei euch bis ans Ende der Welt», sagt Jesus Christus zu seinen Jüngern in Matthäus, Kapitel 28, Vers 20. Der Christ hat einen Begleiter auf seinem Lebensweg. Jesus ist Befreier, und seine Bürde ist leicht. Der Aufruf Jesu ist, die Versklavung zu verlassen und die wahre Freiheit zu ergreifen. In gleicher Weise sind wir aufgerufen, Mitmenschen zu begleiten, die zuwenig oder zuviel Beziehung hatten.

... Ohne für sie die Verantwortung zu übernehmen?

r den Therapeuten besteht oft eine Gefahr darin, dass Hilfesuchende versuchen, so zu werden wie er - manchmal wird dies sogar gefordert. Damit wird der Therapeut selbst zu einer Droge. Er soll nicht Meister, sondern Begleiter sein. Das Vorbild der Therapeuten soll Jesus Christus sein: Er begleitet uns Tag für Tag, und er füllt unser Herz mit Freude. Mit ihm unterwegs, werden wir zu Menschen mit der Fähigkeit und Bereitschaft zu echter Begegnung. Die Zusage: «Ich werde bei euch sein alle Tage», ermöglicht es demjenigen, der es hört, eines Tages selber zu antworten: «Ich bin.»

Ist dies das Vorgehen Ihres Pflegeteams?

Wir durchliefen schmerzliche Erfahrungen. Wir mussten Abschied nehmen von eigenen Vorstellungen, Konzepten und Erwartungen, von der Forderung, auf alles eine Antwort haben zu müssen, ja sogar von der Überzeugung, zur Pflege befähigt zu sein. Wir mussten uns auf eine Arbeit mit unseren Patienten einlassen, bei der wir unzählige Erfahrungen machten, die unseren Vorstellungen nicht entsprachen. Durch Misserfolge und Loslassen lernten wir, dass die praktischen Erfahrungen wichtiger sind als unsere Konzepte.

Wann ist Ihre Aufgabe erledigt?

Etymologisch gesehen, besteht jede Therapie in der Pflege oder darin, etwas wieder in Bewegung zu setzen, das zum Stillstand gekommen ist. Veränderungen anzustreben, eine Krise zu verlassen, um gegen die nächste anzukämpfen. Es ist wichtig, die Grundlage zur Restrukturierung der Identität zu geben. Jede Phase erlaubt es, die Art und Natur der Beziehung zu beobachten. Am Schluss kommt der Abschied, die Trennung von der Institution und damit die Öffnung zu neuen Beziehungen. Das Verpasste in der Phase der Revolte muss verarbeitet, ein Leben in Vergebung und Dankbarkeit eingeübt sein. Kein Aufwand darf gescheut werden, wir müssen bis ans Ende des Weges gehen,

Zum Schluss: Wie definieren Sie Ihren Auftrag?

Wir sind Fährleute, beauftragt von der Versklavung und Beziehungslosigkeit zur Beziehungsunfähigkeit hinüberzuführen.

Aus geschäftsmann und christ Nr. 7/8 1994

Evi - E.

Fotocopyright: Eveline

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