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Die stille Sucht, die sich nach Veränderung sehnt Der Mensch und seine Sehnsüchte Ich sitze mit Simea, unserer jüngsten Tochter, am Tisch. Da fragt sie mich: "Papa, wie groß bin ich?" Das Messband zeigt 118 Zentimeter an. Nach kurzem Überlegen geht das Fragen weiter: "Papa, wie groß bin ich, wenn ich auf einem Stuhl stehe?" Ich muss schmunzeln und erkenne, dass dies jenes Thema trifft, über das ich einige Zeilen schreiben sollte, auf die der Chefredakteur schon sehnsüchtig wartet ... Sehnsucht - für mich ist sie eine der schönsten und auch wichtigsten "Süchte". Sie gehört zum menschlichen Leben. Wo keine Sehnsucht mehr vorhanden ist, da hat ein Mensch vermutlich bereits mit dem Leben abgeschlossen. Inniges Verlangen Sehnsucht bedeutet laut Herkunftswörterbuch ein "inniges, schmerzliches Verlangen". Bei genauerem Überlegen komme ich zum Schluss, dass Sehnsucht in jedem Fall ein "Verlangen nach Veränderung" bedeutet. Sehnsucht geht von einem unvollkommenen Ist-Zustand aus. Ziel ist ein, zumindest vermeintlicher, besserer oder gar vollkommener Zustand. Der Weg zum Ziel ist die Veränderung. Das Größer-sein-Wollen ist eine der vielen Sehnsüchte, die uns bekannt sind. Diese Art nehmen viele Menschen bis weit in das Erwachsenenalter mit. Natürlich geht es dabei nicht nur um körperliche Größe, sondern vielmehr um das Verlangen, mehr zu sein, mehr darzustellen. Große Vielfalt Im Alltagsleben können wir eine sehr vielfältige Palette von Sehnsüchten erkennen. Wer sehnt sich nicht nach Menschen, die ihn verstehen? Wie groß ist die Sehnsucht vieler Menschen nach Frieden! Gerade während des Irak-Krieges wurde diese Sehnsucht zum Beispiel durch die bunten "Friedensfahnen" bekundet. Junge Menschen sehnen sich nach guten Lehrstellen, Schüler nach guten Noten, Arbeitgeber nach willigen Arbeitnehmern, Unternehmer nach Aufschwung in der Wirtschaft, Eltern nach lieben Kindern, Kinder nach lieben Eltern, Arbeitslose nach Arbeit, Überarbeitete nach einem vernünftigen Maß, Hausfrauen und Hausmänner nach selbstreinigenden Küchen, Zirkusdirektore nach ausverkauften Vorführungen, Fußballvereinsvorsitzende nach Top-Sponsoren und möglichst günstigen Torjägern, Pfarrer nach vollen Kirchen mit aktiven Mitgliedern, Leidende nach Linderung, Bequeme nach dem Schlaraffenland. An dieser Stelle könnten wir noch Tausende von Sehnsüchten erwähnen. Ein Lebenshilfsmotor Es gibt Sehnsüchte, die durchaus zur Realität werden können. Andere bleiben für immer unerfüllt. Dies bedeutet aber nicht, dass die Gruppe der unerfüllten Sehnsüchte einfach negativ zu werten sind. Als Kind kannte ich Sehnsüchte, bei denen ich dankbar sein konnte, dass sie nie real geworden sind. Mit Veränderungen tun wir uns aber in vielen Fällen sehr schwer. Dies führt mich zu einem weiteren Gedanken: Sehnsucht kann uns in Bewegung setzen. Sie ist so etwas wie ein "Lebenshilfsmotor". Ein Mensch, der sich wirklich von Herzen danach sehnt, gute Beziehungen zu pflegen, wird im Normalfall auch etwas dafür unternehmen. Sehnsüchte werden nicht einfach durch unser Sehnen existent. Wer sich danach sehnt, schöne Musik zu machen, wird versuchen, daran zu arbeiten. Der Zirkusdirektor, der sich nach vollen Zuschauerrängen sehnt, wird mit Werbung versuchen, andere in Bewegung zu setzen. Der Aufschwung in der Wirtschaft wird nicht einfach durch ein Sehnen eingeleitet - da ist harte Arbeit gefragt. So gesehen ist die Sehnsucht der Ausgangspunkt für Veränderung. Wer keine Veränderung mehr erlangen möchte, der ist am Ende angelangt. Der ist fertig. Vor ein paar Jahren entschuldigte sich ein junger Pastor bei einem Pastorentreffen, dass er noch kein "fertiger" Pastor sei. Da antwortete ihm ein älterer Pastor: "Manchmal bin ich ein fertiger Pastor!" Wenn ein Mensch an diesem Punkt angelangt ist, dann könnte es schwierig werden. Wo wir fertig sind, keine Sehnsüchte mehr haben, werden wir uns auch nicht mehr groß bewegen lassen. Der Anfang der Sucht Allerdings bieten Sehnsüchte nicht nur Chancen zur positiven Veränderung. Mancher Mensch mit großer Sehnsucht landet in einer starken Sucht. Durch verführerische Versprechen ist manch hoffnungsvolles Leben zerstört worden. Für viele wurde die Sehnsucht nach Veränderung zum schrecklichen Alptraum. Wohl jeder dieser Menschen hatte, bevor er süchtig wurde, große Sehnsucht in sich. Die Sehnsucht nach Freiheit, nach Geborgenheit, nach Liebe, nach Frieden, nach Veränderung. Tatsächlich erleben solche Menschen Veränderung. Aber sicher nicht so, wie sie sich das erhofft haben. Viele von ihnen erhofften sich, dass sie noch glücklicher werden könnten. Aber sie kamen in einen Teufelskreis und wurden so zu den Aussätzigen unserer Tage. Unerfüllte Sehnsucht Es werden nicht alle Sehnsüchte gestillt. Ich kannte einen Mann, der lag gelähmt im Bett. Er konnte seit Jahren nicht mehr auf den Füßen stehen. Aber er trug in sich die große Sehnsucht, eines Tages wieder um den Tisch gehen zu können. Diese Sehnsucht ging nicht mehr in Erfüllung. Der Mann ist vor vielen Jahren gestorben. Aber diese Sehnsucht war für ihn trotzdem sehr wichtig und motivierend, auch wenn sie nicht zur Realität wurde. Unerfüllte Sehnsüchte und Wünsche bedeuten nicht automatisch ein Drama. Auch eine solche Sehnsucht kann für uns zu einem wichtigen Lebensbestandteil werden. Wenn sich alles nur erfüllen würde, wären wir vermutlich nicht zufriedener! Wir wüssten gar nicht mehr, von was wir noch träumen könnten. Die andere Dimension In einem Grundsatzartikel zum Thema "Sehnsucht" sollte ein Aspekt nicht unterschlagen werden. Es ist der Hinweis auf denjenigen, der einmal zu seinen Jüngern sagte: "Mit Sehnsucht habe ich mich gesehnt, dieses Passah mit euch zu essen, ehe ich leide" (Lukas 22, 15). Es ist durchaus legitim, darauf hinzuweisen, dass dieser Jesus Christus die Sehnsucht hat, auch mit dir und mir eine tiefe Beziehung zu pflegen. Es ist befreiend, die eigenen Sehnsüchte im Blick auf diese Sehnsucht von Jesus Christus zu durchleuchten. Er verspricht denen, die ihm vertrauen, ein erfülltes Leben. Er kennt unsere Sehnsüchte, und er weiß auch, wo es gut ist, wenn unsere Sehnsüchte gestillt werden: Dort, wo er sie stillt, da sind sie gestillt. Wer sich seiner Sehnsucht in der Gemeinschaft mit Jesus Christus stellt, wird erkennen, dass es gar nicht mehr nötigt. ist, auf einem Stuhl zu stehen, um größer zu scheinen. Wir können dann den himmlischen Vater fragen: "Vater, wie groß bin ich?" Und er antwortet vielleicht: "So groß, dass ich dich ganz fest lieb habe und mein Liebstes für dich hingegeben habe!" In dieser Dimension werden viele unserer Sehnsüchte an Bedeutung verlieren. Dann wird uns anderes wichtig werden. Thomas Prelicz in „Chrischona Magazin 6/03“ |
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