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Vaterschaft

Vaterschaft

Als zweites Kind wurde ich 1952 in eine vaterlose Familie hineingeboren. Diese Situation prägte meine Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig. Schon in meiner Kindheit hatte ich den Eindruck, dass mein Vater - den ich zwei bis dreimal pro Jahr anlässlich eines kurzen Besuchs zu Gesicht bekam - etwas Besonderes sein müsste. In dieser Weise interpretierte ich alles, was mir meine Mutter von ihm übermittelte. Mich beeindruckte, dass mein

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Vater jeweils mit einem Auto vorfuhr. Keine Selbstverständlichkeit für eine ländliche Gegend in den fünfziger Jahren. Dennoch war und blieb mein Vater ein Fremder, jemand, dem ich mit Unsicherheit, ja Angst begegnete. Für meine Mutter war ich ein Stück weit das Abbild dieses Mannes, den sie nicht heiraten konnte. So entstand ein Vater-Idealbild: großzügig, intelligent, mutig... in den folgenden Jahren nahm ich viele dieser Charakterzüge an. Ich war bereits als Kind zuverlässig, gut in der Schule, brav und vernünftig. Das verzerrte Vaterbild wurde unmerklich zunehmend zu meiner Scheinidentität. Ich versuchte jemand zu sein, der ich nicht war. Beklemmend war die Angst in mir, es doch nicht zu schaffen. Sie wurde zur Bedrohung meines Daseins. Diese Angst wollte ich besiegen.

Aufgrund meiner Begabungen lag es nahe, dass ich dieses Ziel durch Leistungen erlangen wollte. Ich suchte nach Bestätigung und Sicherheit. Leistung und Erfolg waren die Eckpfeiler meiner Identität. Überall, in der Schule, im Sport, in den Cliquen und Gangs ging es stets darum, die anderen zu übertreffen. Dadurch empfand ich Sicherheit und Annahme. Doch als ich ins Pubertätsalter kam, realisierte ich, dass ich gepackt war vom Streben nach Macht. Macht schien für mich das Mittel für Bestätigung und Annahme, und Leistung schien der Weg zur Macht zu sein. Mein Bedürfnis war vergleichbar mit dem Fass ohne Boden. Nichts war genug. Bedürfnisse konnten nicht gestillt werden. In diesem Prozess kam meine Leistungsfähigkeit an Grenzen; ich konnte meine Identität nicht mehr sichern. So suchte ich nach Alternativen und landete in religiös‑-philosophischen Gedankenwelten. Ich schöpfte erneut Hoffnung; vielleicht gelänge es, mittels Kräften und Mächten aus dem Unsichtbaren, die für mich lebensnotwendigen Bedürfnisse zu befriedigen.

Je mehr ich mich der Mächte der Manipulation und Zauberei bediente, desto größer wurden meine Ängste. Ich fühlte mich schlecht und minderwertig. Schicksalsschläge empfand ich als persönliche Bestrafung. Ging eine Beziehung in Brüche, oder lief in der Schule etwas nicht nach Wunsch, so klagte mich etwas im Innern an mit den Worten: «Du hast es verdient!» Gleichzeitig empfand ich mich durch die Misserfolge berechtigt, neue Machtmittel zu erschließen, um erfolgreicher, sprich sicherer zu sein. Mein Leben wurde zum teuflischen Spiel um Bestätigung und Bestrafung. Meine Maske begann abzubröckeln, und eines Tages warf ich sie ganz ab und griff zu Drogen (Haschisch und LSD). Drogen brachten ein neues Lebensgefühl der Freiheit, des Selbstseins. Diese neue Seins- und Scheinwelt, gepaart mit dem antiautoritären Gedankengut der sechziger Jahre, versprachen zumindest ein spannendes und kurzweiliges Leben.

Desillusionen ließen nicht lange auf sich warten. Die Lebensängste holten mich ein. Resignation trieb mich in die Haltung fataler Verneinung jeglicher Lebenswerte und jeglichen Lebenssinns. Das Spritzen von «harten» Drogen, der Einstieg in Kriminalität, Sympathisieren mit Terrorbewegungen und Ablehnen jeglicher Ordnungen waren die Folgen. Ich verurteilte die westliche Kultur und wandte mich nach Osten. Reisen in den Orient führten freilich zur völligen Desillusionierung, denn ich stellte fest, dass ich auch dort mit meinem Leben nicht zurecht kam: Ablehnung und Angst bestimmten mein Verhalten. Ohne Betäubung war auch dort das Leben unerträglich.

Mit dreiundzwanzig Jahren war ich ein echter «Bürgerschreck». Drogensüchtig, kriminell äußerlich verwahrlost... Nach einem Einbruch und dem Tod eines Kollegen kam es zu meiner Verhaftung. Ich war am Ende. Ein Selbstmordversuch in der Untersuchungshaft desillusionierte mich auch bezüglich des Todes. Zu sterben war doch nicht so leicht, wie ich es angenommen hatte. Ich wusste in meinem Innern: So wie ich bin, kann ich nicht sterben! Aber wie leben? Von der Untersuchungshaft wurde ich in die psychiatrische Klinik verlegt und dann nach Regensdorf, wo ich meine Strafe verbüßen sollte.

Im Gefängnis fühlte ich mich wie im Niemandsland zwischen Leben und Tod. Der psychische Druck führte mich erneut an den Rand des Selbstmordes. «Faut de mieux» las ich eines Tages in der Bibel die Psalmen. Ich schlug Psalm 69 auf. «Herr hilf mir, denn die Wasser gehen mir bis an die Seele.» In einer außergewöhnlichen Weise fühlte ich mich durch diese Worte verstanden und angenommen. Für einen Augenblick erfüllten mich Licht und Geborgenheit. Doch dieser Zustand war so schnell vorbei, wie er über mich gekommen war. Zurück blieb ein inneres Schreien nach Gott.

Meine Strafe wurde in eine therapeutische Maßnahme umgewandelt. Dadurch kam ich im Mai 1975 in die Therapiestation Best Hope - mit meiner Absicht, so schnell wie möglich über die Grenze zu verschwinden. Was ich jedoch erlebte, veränderte mein Leben von Grund auf. Die Art der Gemeinschaft, die sowohl durch Offenheit und Ehrlichkeit als auch durch Mitgefühl und praktizierte Annahme geprägt war, überzeugte mich. Ich erlebte die befreiende Kraft der Gegenwart Gottes in meinem Leben: Vergebung von Schuld, Befreiung von Bindungen und Zwängen gefühlsmäßiger und gedanklicher Art wie auch Heilung von inneren Verletzungen. Jesus Christus wurde zum persönlichen Gegenüber, zum Freund und Partner und schließlich zu meinem Herrn.

Der Weg der inneren Veränderung verlief in verschiedenen Phasen: Existentiell erfuhr ich, dass Leben und Sicherheit nicht von Leistung, Erfolg und Macht abhängig ist, sondern von der Beziehung zu Jesus Christus. Glauben erlebte ich nicht als das Akzeptieren von Dogmen, sondern als lebendigen Umgang mit Gott, als Dialog im Alltag. Mein neues Gegenüber besser kennen zu lernen wurde zu meinem Herzenswunsch. Heftige Krisen blieben nicht aus. Intellektuelle und emotionale Infragestellungen meiner Gottesbeziehung lehrten mich, dass Glaube kein Zustand, sondern ein Weg ist. Täglich bin ich zur Entscheidung für diesen Weg aufgerufen. Ich bin aufgefordert, Verantwortung für mein Leben zu übernehmen und in meinen zwischenmenschlichen Beziehungen erwachsen zu werden.

Nach Abschluss der Therapie kehrte ich in meine alte Umgebung zurück, absolvierte die Erwachsenenmaturitätsschule in Zürich und studierte Theologie. 1981 verheiratete ich mich mit Sabine. Dieser Schritt brachte meine Beziehungsfähigkeit auf den Prüfstand. Nicht alles hielt stand; vieles musste tiefer gegründet werden. Eine weitere Phase der Heilung unserer Gefühle begann. Wir übten in den folgenden Jahren Ehegemeinschaft unter der Leitung von Gottes Geist. In dieser Zeit wurden uns zwei Kinder geschenkt das dritte folgte 1987; Zeichen der Liebe Gottes. Damit begann ein neues, ganz besonderes Kapitel in meinem Leben: Der Weg zum Vater. In diesem Prozess realisierte ich, dass mein übersteigertes und verfälschtes Vaterbild eine wirkliche Beziehung zu Gott als Vater verunmöglichte. Dies erklärte auch meine wiederholten Rückfälle ins Leistungsprinzip und mein Gefühl, alleingelassen zu sein. Ich realisierte auch meinen Mangel an reifer emotionaler Männlichkeit in der Beziehung zu meinen Kindern wie auch zu meiner Frau. In seelsorgerlichen Gesprächen gelang es, die Gründe dieser Störungen aufzudecken, und eines Tages vernahm ich Gottes Reden zu meinem Herzen: «Roland, Du bist zwar ein guter Mitarbeiter, aber ein lausiger Sohn!» Bis anhin hatte ich mich mit dem jüngeren Sohn vom Gleichnis «verlorener und wieder gefundener Sohn» in Lukas 15 identifiziert. Nun wurde mir klar, dass ich viel mehr der Daheimgebliebene, «Krampfer», der ältere Sohn war. Durch die Liebe Gottes erlebte ich Befreiung und Öffnung für eine echte Vaterschaft. Der nächste Schritt bestand darin, dass ich mit meinem leiblichen Vater Kontakt aufnahm das erste Mal nach 28 Jahren. Mit der Zeit entdeckte ich eine völlig neue Gefühlswelt, ich wurde sensibel für Vaterfiguren.

Seit 1986 bin ich vollzeitlich für Best Hope tätig, zur Zeit in der Werkleitung. In meinen Aufgaben als Leiter wird mir immer deutlicher bewusst, dass Vaterschaft der Schlüssel zu Autorität und Liebesfähigkeit ist. Die irdische Vaterschaft kann dazu kein vollkommenes Bild abgeben, allein die Erfahrung des Angenommenseins beim himmlischen Vater befreit von Leistungssucht, von den Klischees patriarchalischer Gesellschaftsstrukturen, von Dogmatismus und Machtstreben.

Erlebnisbericht von Pfr. Roland Mahler, CH-Herisau

aus: “ä”geschftsmann und christ Nr. 7/8 1994

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