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Bulimie - Leitfaden

Bulimie – Leitfaden für Eltern, Angehörige, Partner, Freunde, Lehrer und Kollegen

1. Fallbeispiel

2. Typische Muster und Abläufe

3. Hinweise auf Ursachen und Auslöser

4. Was sollten Sie tun, was vermeiden?

4.1. Mütter

4.2. Väter

4.3. Geschwister

4.4. Partner

4.5. Angehörige (Großeltern, Tanten, Onkel, etc.)

4.6. Freunde und Kolleg(inn)en

4.7. Lehrer(innen)

5. Resümee

1. Ein Fallbeispiel

Petra ist 21 Jahre alt. Sie studiert Germanistik. Bis zu ihrem 20. Lebensjahr wohnte sie zusammen mit ihrem um ein Jahr jüngeren Bruder bei den Eltern. Für ihren magersüchtigen Bruder suchte sie vor zwei Jahren eine Beratungsstelle für Ess-Störungen auf. Sie steckte damals im Abitur und machte sich Sorgen um den immer magerer werdenden Bruder. Im Verlauf einiger Beratungsgespräche auch zusammen mit ihrem Bruder wurde deutlich, dass sie selbst auch Hilfe benötigte. Sie war seit ihrem vierzehnten Lebensjahr essgestört. Ihre damalige Magersucht blieb weitgehend unerkannt: Sie war eben schlank. Ihr Essverhalten, erinnerte sich die Mutter in einem späteren Gespräch, war zwar merkwürdig, aber die Mädchen seien eben in einem bestimmten Alter etwas komisch. Erst als der Vater sich einmischte und darauf bestand, dass Petra wieder wie ein normaler Mensch zu essen habe, kam sie auf die Idee mit der Bulimie. So konnte sie »normal« essen, wurde aber auf keinen Fall dicker.

Die Anfänge

Ihr Vater spielt heute - trotz der räumlichen Entfernung - noch eine große Rolle in ihrem Leben. Sie hat Angst vor ihm. Er meint es zwar immer nur gut mit ihr, ist aber unerbittlich in seinen Entscheidungen. Seine harte Jugend bringt er immer wieder ins Gespräch. Für ihn zählen Leistung und Arbeit. Gefühle sind Luxus. Petra leidet darunter. Ebenso wie ihr Bruder. Die sensible Mutter, die versucht, immer wieder alles gut zu machen, kann diese Härte nur bedingt auffangen. Sie ist froh, dass die Kinder nunmehr aus dem Haus sind und sie nicht mehr zwischen die Fronten gerät. Allein mit ihrem Mann kommt sie einigermaßen zurecht.

Petra hat in der Schule perfekt funktioniert. Sie war immer Klassenbeste. Sie wählte ein Studium, das ihr der Vater anriet, ihr allerdings keine rechte Freude macht. Medizin wäre ihr Traum. Als sie noch zu Hause lebte, hatte sie Probleme, ihre Bulimie versteckt zu halten. Ihre Magersuchtsphase war leichter zu leben, da brauchte sie nur das Essen zu verweigern oder sich davor zu drücken. Nachdem sie nun »normal« aß, hatte sie gehofft, mit dem Erbrechen dieser normalen Mahlzeiten eine Gewichtszunahme zu verhindern. Nach und nach entstand ein Heißhunger auf bestimmte Lebensmittel, und sie verlor die Kontrolle über ihr Essverhalten. Essanfälle entwickelten sich. Ihr Plan ging nicht auf. Neben dem normalen Essen mit der Familie hatte sie nun mit heimlichen Essanfällen zu kämpfen. Nachts, oder wenn niemand im Haus war, durchstöberte sie die Vorräte und machte sich über sie her.

Sie fühlte sich furchtbar dabei und schwor sich jedesmal, dass damit Schluss sein müsse. Das Übergeben fiel ihr schwer. Sie kam auf die Idee, es mit Abführmitteln zu versuchen. Sie schluckte immer größere Mengen und litt unsäglich an den Folgen. Dann erprobte sie die Gewichtskontrolle über den Sport.

Die Essanfälle konnte sie nicht mehr aufhalten. Inzwischen ging sie schon gezielt dafür einkaufen und versteckte die Lebensmittel in ihrem Zimmer. Das Geld wurde ihr knapp. Sie nahm ab und zu etwas aus der Geldbörse ihrer Mutter. Das merkte niemand. Nach jedem Essanfall drei Stunden auf den Stepper oder Joggen - das erschien ihr als Lösung. Aber auch diese Methode konnte sie nicht durchhalten. Sie kehrte zurück zum Erbrechen. Ihr Körper war zwar nach außen hin perfekt, sie spürte jedoch, wie ihre Kräfte nachließen. Dazu kam, dass sie sich immer mehr zurückzog. Sie fühlte sich sehr deprimiert, ihr kam alles sinnlos vor. Ihrer Mutter fiel das auf, sie schickte sie zum Hausarzt. Dem Arzt erzählte sie nichts von ihrer Bulimie. Sie befürchtete, er könnte darüber mit ihren Eltern sprechen. Sie erhielt Antidepressiva. Damit sollte sie wieder Antrieb bekommen.

Als sie das erste Mal im Rahmen eines Beratungsgesprächs, bei dem es eigentlich um ihren Bruder gehen sollte, über ihre Bulimie sprach, kam eine große Traurigkeit in ihr auf. Was hatte sie sich nicht alles angetan? Verzweifelt über ihre Unfähigkeit, das alles allein wieder in den Griff zu bekommen, wollte sie nun Hilfe annehmen. Ihre Eltern sollten aber nichts erfahren. Besonders ihr Vater nicht, der würde sowieso nichts verstehen.

Die Magersucht ihres Bruders war der Anlass, ein Familiengespräch zu organisieren. Aus diesem einen Familiengespräch wurden mehrere. Sie dienten dazu, die Familie dabei zu unterstützen, neue, gesündere und direktere Kommunikationswege zu finden, die ein Wachstum und eine Ablösung der jungen Leute begünstigten. Nach den ersten fünf Gesprächen war es Petra möglich, sich eine eigene Wohnung zu organisieren. Auch der Bruder kam in einer Wohngemeinschaft unter. Beide hatten eine Einzeltherapie begonnen, Petra besuchte zudem eine angeleitete Selbsthilfegruppe.

Die erste Zeit in ihrer eigenen Wohnung fiel ihr schwer. Das Symptom verstärkte sich, sie zog sich mehr und mehr zurück. Diese Tendenz wurde in den weiteren Familiengesprächen und in der Einzeltherapie angesprochen. Die Arbeit in einer angeleiteten, regelmäßigen Gruppe mit gleichaltrigen betroffenen Frauen steuerte dieser Entwicklung entgegen und verhinderte, dass sich Petra tiefer in ihre Erkrankung verstrickte. Ihren Wunsch auf ein Medizinstudium hat sie sich auch fast erfüllt, sie wechselte das Studienfach und wartet auf ihre Zulassung. Mit Hilfe der Familiengespräche war es möglich, den Vater einsichtig zu stimmen.

Petras Mutter hat sich in den zwei Jahren enorm verändert. Ihre Weinerlichkeit ist verschwunden, sie hat Mut gefasst, sich zu wehren, ihre Bedürfnisse zu formulieren und auch durchzusetzen. Sie ist so, wie sich Petra ihre Mutter immer gewünscht hat: selbstbewusst und handlungsfähig. Der Vater hatte Probleme mit dieser neuen Frau und drohte, diese mit Alkohol zu bekämpfen. Auch hier zeigte sich, wie nötig und hilfreich die begleitenden Familiengespräche waren.

2. Typische Muster und Abläufe

Perfektionismus

Gefährdet sind Menschen, in deren Familien Suchtverhalten aufgetreten ist. Außerdem kann eine Neigung zum übertriebenen Perfektionismus ein Hinweis auf eine Gefährdung sein. Perfektionismus wird im Verlauf einer Bulimie noch stärker und quält Betroffene nicht nur im Hinblick auf ihre Figur, sondern in allen Lebensbereichen: Schule, Ausbildung, Rolle als Tochter oder/und Freundin, Ehefrau, Mutter etc. Ich bin nicht gut genug, nicht schön genug, nicht genug überhaupt! Ich bin so wie ich bin nicht richtig, alles an mir könnte besser sein. Obwohl die Fassade lange Zeit stimmt, ist das Selbstwertgefühl der Betroffenen sehr schwach ausgeprägt, ihre Identität verschwommen.

Unterdrückung von Bedürfnissen

Bulimische Frauen haben nicht gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und gegenüber anderen zu vertreten. Außerdem berichten sie über starke Abhängigkeitsgefühle, die mit großen Verlust- und Trennungsängsten einhergehen. Dies trägt zur Unterdrückung eigener Gefühle und Bedürfnisse bei und hat eine starke Orientierung an den Erwartungen anderer Menschen zur Folge. Das mangelnde Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen bewirken depressive Verstimmtheit sowie Gefühle der emotionalen Leere, Hilflosigkeit und Anspannung und der Scham über die Unzulänglichkeit des eigenen Körpers. Das Wahrnehmen, Benennen und Ausdrücken der eigenen Gefühle gelingt den Frauen nur schwer. Die in der eigenen Wahrnehmung bestehenden Unterschiede zwischen dem »Wie ich sein will« und dem »Wie ich bin« führen zu Spannungszuständen, die sich dann im Essverhalten entladen.

Rund 50 Prozent der bulimischen Frauen waren früher einmal magersüchtig. Die Symptomverlagerung ist eine scheinbare Lösung und begünstigt die Entwicklung zu einer chronischen Ess-Störung. Ein anderer Einstieg ist eine oder mehrere missglückte Diäten. Der Wille, schnell schlank zu werden, eine extreme Diät stehen dann am Anfang einer Krankheit. Der »Diät-Geheimtipp« wird durch die Medien verbreitet und oft auch bagatellisiert. Dieser Anfang erscheint harmlos. Die Schwelle zur Ess-Störung, aus der sich Betroffene ohne fremde Hilfe kaum noch befreien können, ist aber schnell überschritten.

Die Entwicklung kann, muss aber nicht dramatisch werden. Bei einem schweren Krankheitsverlauf kommt es neben schweren körperlichen Schäden auch zu sozialen Auffälligkeiten: Häufig ambivalentes Verhalten ("launisch sein«, »mal hü, mal hott«) und Aggressivität be- und verhindern Kontakte, führen zur Vernachlässigung der Schulpflichten, zu einer chaotischen Wohnsituation (Zimmer ist überfüllt mit Lebensmittelresten, offenen Büchsen, Papier etc.), zum Stehlen von Lebensmitteln oder Geld, zu hoher Verschuldung.

3. Hinweise auf Ursachen und Auslöser

Rollenerwartung

Als wesentliche Risikofaktoren haben sich das gesellschaftliche Schlankheitsideal und eine veränderte Rollenerwartung an Frauen erwiesen. Einerseits können Frauen sich von der traditionellen Hausfrau- und Mutterrolle distanzieren und beruflichen Erfolg und Leistungsbereitschaft anstreben, andererseits werden ihnen aber nach wie vor die weiblichen Tugenden der Warmherzigkeit, des Sorgens für andere und vor allem des Schönseins zugesprochen und abverlangt.

Psychische Risikofaktoren sind vor allem ein Mangel an Selbstwertgefühl, eine große Selbstunsicherheit und eine insgesamt gestörte Entwicklung der eigenen Identität. Es besteht ein Mangel in der Wahrnehmungsfähigkeit der eigenen Körpersignale wie Hunger oder Sättigung, diese werden kaum oder verzerrt wahrgenommen. Gewichtskontrolle und Diäten vermitteln dann ein Gefühl der Sicherheit, weil die eigenen Bedürfnisse scheinbar kontrolliert werden.

Die familiäre Situation bulimischer Frauen ist häufig durch große Unsicherheit geprägt; mindestens zu einem Elternteil besteht in der Regel eine unsichere Bindung. Häufig finden sich frühe Verlustereignisse, z.B. Trennung von einem Elternteil, so dass die junge Frau schon früh das Erleben mangelnder Unterstützung zu verarbeiten hatte. Immer wieder wird auch über sexuellen und emotionalen Missbrauch in den Familien berichtet.

Kontrolle und Konfliktvermeidung

Kontrolle und Konfliktvermeidung charakterisieren das familiäre Klima in diesen Familien. Es gibt indirekte gegenseitige Beschuldigungen und Abwertungen. Widersprüchliche Botschaften kennzeichnen den Umgang miteinander. Vor allem die Konfliktvermeidung trägt dazu bei, dass bulimische Frauen kaum taugliche Strategien zur Konfliktlösung lernen. Vielmehr scheint ein Überleben angesichts von Konflikten nur durch ein hohes Maß an Kontrolle der eigenen Gefühle möglich. Viele bulimische Frauen berichten über familiäre Schlankheits- und Gesundheitsideale, der äußeren Erscheinung wurde eine hohe Bedeutung eingeräumt.

In einer Atmosphäre, in der die Bedürfnisse des Einzelnen nicht respektiert werden, wird auch die Wahrnehmung von Körpersignalen wie Hunger und Sättigung verlernt. Essen wird in diesen Familien häufig nicht bedürfnisorientiert eingesetzt, sondern als Mittel der Ablenkung, Belohnung und Entspannung und zur Aufrechterhaltung traditioneller Normen.

Hat sich die Bulimie erst einmal ausgebildet, so wird sie im Sinne eines psychosomatischen Teufelskreises aufrechterhalten. Diäten, Fasten, Erbrechen, exzessiver Sport und Abführmittelmissbrauch führen zu einem körperlichen und psychischen Mangelzustand, der nicht unbegrenzt ausgehalten werden kann. Typischerweise folgen Heißhungeranfälle, die wiederum auf körperlicher und psychischer Ebene zu massivem Unwohlsein führen, das nun abermals durch Diäten, Fasten, Erbrechen, exzessiven Sport und Abführmittelmissbrauch beendet wird. Dies hat erneut einen körperlichen und psychischen Mangelzustand zur Folge usw. usw.

4. Was sollten Sie tun, was vermeiden?

4.1. Mütter

Sie werden vielleicht die Erste sein, die bemerkt, dass Lebensmittel verschwinden und Sie keine Erklärung dafür haben. Vielleicht ist es auch der typisch süßliche Geruch im Badezimmer, der Sie stutzig macht. Dazu kommt dann vielleicht ein Fernsehbericht, der Ihnen die Augen öffnet. Aber wie sollen Sie Ihre Tochter ansprechen? Oder sollen Sie sie erst einmal »verfolgen« und »auf frischer Tat« ertappen? Besser ist es, Sie suchen einen ruhigen Augenblick und sprechen dann offen über Ihre Vermutung. Wahrscheinlich wird Ihre Tochter sagen, dass ihr übel geworden ist, dass Sie sich keine Sorgen machen sollen, oder sie reagiert aggressiv und verweigert jede weitere Auskunft. Lassen sie sich weder beruhigen noch abweisen. Wenn Sie eindeutige Hinweise auf eine Bulimie haben, müssen Sie in die Konfrontation gehen und dürfen sich nicht in das Verleugnungssystem Ihrer Tochter einbeziehen lassen. Achten Sie besonders auf starkes Ambivalenzverhalten und Rückzugstendenzen. Erklären Sie deutlich, dass Sie dies auf die Bulimie zurückführen, und beziehen Sie sich auf früheres Verhalten Ihrer Tochter.

Sicher ist es in der Pubertät schwierig, sowohl einer altersgemäßen Veränderung Rechnung zu tragen als auch zu erkennen, welche Verhaltensveränderungen der Bulimie zuzuordnen sind. Eindeutig wird es für Sie dann, wenn Sie Abführmittelmissbrauch erkennen, Spuren des Erbrechens finden oder Ihre Tochter exzessiv Sport treibt. Gewichtsveränderungen sind ein weiterer Hinweis. Doch sollten Sie diese Veränderung nicht in den Vordergrund stellen. Es hilft auch nicht, wenn Sie Ihrer Tochter bestätigen, dass sie doch nunmehr eine gute Figur habe und so bleiben könne. Gutes Zureden und logische Erklärungen greifen bei Betroffenen nicht. Das Schwierigste für Sie wird die Erkenntnis sein, dass Sie nur in sehr kleinem Umfang helfen können. Sie können sich Unterstützung holen und damit vorbildlich zeigen, dass Sie kein Übermensch sind und Hilfe akzeptieren, Sie können Informationsmaterial zu Hause liegen lassen, aber letztendlich muss Ihre Tochter entscheiden, wann und wie sie Hilfe in Anspruch nimmt. Druck und Zwang sind keine guten Ratgeber. Sie sollten unbedingt überprüfen, wie die Kommunikation in Ihrer Familie läuft. Sind Sie das Sprachrohr für alle? Wie direkt treten die Familienmitglieder miteinander in Kontakt? Wie viele Kompromisse schließen Sie »um des lieben Friedens willen«? Wer darf wem in der Familie Grenzen setzen? Ist klar, wer wofür zuständig ist? All das sind Fragen, welche die Familienstruktur betreffen und darauf abzielen, sie klar und überschaubar zu machen. In einer Familientherapie werden solche Fragen auf Sie zukommen.

· Ihre Tochter wird wahrscheinlich vermeiden, mit Ihnen gemeinsam Mahlzeiten einzunehmen. Sie sollten Sie dazu auch nicht zwingen. Essanfälle wird sie in Ihrem Beisein nicht praktizieren. Falls Sie jedoch noch gemeinsam essen, Sie selbst aber unter starker Spannung dabei stehen, weil Sie aufgrund Ihrer Erfahrung wissen, dass Ihre Tochter nach dem Essen im Bad verschwindet, so sollten Sie getrennte Essenssituationen empfehlen. Absprachen mit der Tochter, sie davon abzuhalten, das Essen wieder zu erbrechen, haben meist nur sehr kurzfristig Erfolg und münden in Aggressionsausbrüchen. Ersparen Sie sich derartige Experimente.

· Bestehen Sie darauf, dass die Toilette sauber gehalten wird, beobachten Sie, ob Ihre Vorräte verschwinden und ob Ihre Tochter das Essen versteckt. Respektieren Sie dabei aber unbedingt ihr Hoheitsrecht in ihrem Zimmer. Ihre Tochter darf ihr Zimmer verschließen.

· Falls Vorräte verschwinden, ordnen Sie getrennte Fächer im Kühl- und/ oder Speiseschrank an. Kaufen Sie keine Extramengen ein. Übergeben Sie die Verantwortung für die Ernährung Ihrer Tochter an diese zurück. Manchmal ist es sinnvoll, Betroffenen einen gewissen Geldbetrag für Lebensmittel pro Woche zur Verfügung zu stellen, über den sie frei verfügen können. Dies unterstützt die Autonomie und entlastet die Familie. Damit ist nicht nur die getrennte Lagerung der Lebensmittel, sondern auch ihre Beschaffung gewährleistet.

· Bestehen Sie darauf, dass sie ‑- wenn sie tatsächlich bulimisch ist - einen Arzt aufsucht. Mangelerscheinungen können so gestoppt und beseitigt werden.

4.2. Väter

Sie werden es erst einmal nicht glauben, wenn Ihre Frau Ihnen von dem Verdacht berichtet. Ihre Tochter sieht gut aus, hat keine Schulprobleme und scheint auch sonst unproblematisch, zumindest nach dem zu urteilen, was Sie in Ihrer knappen Zeit in der Familie mitbekommen. Nehmen Sie jedoch die Hinweise Ihrer Frau ernst. Meist liegen die Mütter mit ihrem Verdacht richtig. Informieren Sie sich anhand von Literatur über die Symptomatik und über die Auswirkungen der Bulimie.

· Nehmen Sie die Bulimie Ihrer Tochter ernst. Mit Ironie oder guten Ratschlägen erreichen Sie nichts. Auch nicht mit Ermunterungen, die sich auf die guten Leistungen und das gute Aussehen Ihrer Tochter beziehen. Das könnte die Erkrankung ungünstig beeinflussen.

· Stellen Sie Ihre Tochter nicht zur Rede, sondern finden Sie gemeinsam eine Gelegenheit zu einem ruhigen Gespräch. Allerdings sollten Sie sich dabei nicht auf die Informationen Ihrer Frau beziehen, sondern auf eigene Beobachtungen. Teilen Sie Ihrer Tochter Ihre Besorgnis ehrlich mit. Sie können auch zugeben, dass es Ihnen schwer fällt, diese Erkrankung zu verstehen. Dies wird Ihre Tochter nicht verlangen. Sie möchte lediglich erst einmal ernst genommen werden. Bieten Sie Ihre Hilfe an, z.B. Ihre Bereitschaft zur Teilnahme bzw. zur Unterstützung einer zukünftigen Therapie.

· Achten Sie darauf, dass Sie sich nicht in Gespräche über die Mutter oder andere Familienmitglieder verwickeln lassen. Sprechen Sie über die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Tochter. Bilden Sie keine Koalition mit Ihrer Tochter gegen Ihre Frau.

4.3. Geschwister

Wenn zum Frühstück nur noch trockenes Brot da ist, das Nutellaglas wieder einmal leer ist und die Schwester dazu schlechte Laune hat, ist die Zeit gekommen, wo auch Geschwister Ärger empfinden und fragen, was denn los ist. Da Bulimie eine heimliche Erkrankung ist, wird es auch schwer sein, sie im Anfangsstadium zu entdecken. Manchmal ahnen Schwestern oder Brüder aber schon sehr früh etwas, vielleicht auch, weil sie das Zimmer teilen. Dann sollten sie sich unbedingt Rat holen. Obwohl häufig Konkurrenzverhalten zwischen den Geschwistern besteht, ist ein ehrliches Wort von der Schwester oder dem Bruder häufig eine Brücke für die Betroffenen sich Hilfe zu holen. Je nach Alter der Schwester oder des Bruders, können die Eltern durchaus erst einmal außer Acht gelassen werden, wenn sie es sich zutrauen, Kontakt mit einer Beratungsstelle herzustellen und sich dort Unterstützung holen können.

4.4. Partner

Es wird selten geschehen, dass Sie bereits von Beginn der Partnerschaft an über die Bulimie informiert sind. Sie werden erst einmal die liebenswerten und perfekten Seiten Ihrer meist sehr attraktiven Partnerin kennen lernen. Umso erschreckender ist es dann, von ihrer anderen Seite zu erfahren. Betroffene haben große Angst, sich zu offenbaren. Sie befürchten, dass der Partner sich vor ihnen ekelt und sie ausgrenzt. Meist ist diese Angst unbegründet. Eher erschwert die Hilflosigkeit des Partners den Umgang miteinander. Er fühlt sich verantwortlich und gefordert und kann doch so wenig machen.

Nichts ist richtig

Hält er sie nach dem Essen am Tisch, lässt er sie ohne Kommentar erbrechen, tut er so, als ob alles in Ordnung ist, schimpft er, macht er Druck: Selten wird er damit langfristig etwas erreichen. Bulimie ist eine psychosomatische Erkrankung mit Suchtcharakter, die mit einfachen Verhaltensregeln nicht zu verändern ist. Partner können lediglich die Therapiemotivation stützen und dafür sorgen, dass sie vorbildlich Grenzen setzen. Sie sollten sich auf keinen Fall aufopfern und alles für die Betroffene tun. Führen Sie Ihr eigenes Leben in eigener Verantwortlichkeit, pflegen Sie Kontakte zu Ihren Freunden und Bekannten.

Nehmen Sie sich Zeit für Ihre Partnerin und geben Sie ihr Zuwendung und Verständnis, fordern Sie dabei jedoch auch, dass sie sich in Behandlung begibt. Heimlichkeiten und Lügen, die mit der Bulimie häufig einhergehen, belasten eine Partnerschaft sehr stark. Holen Sie sich notfalls auch Unterstützung in einer Paarberatung.

4.5. Angehörige (Großeltern, Tanten, Onkel etc.)

Sie werden wohl am wenigsten davon mitbekommen, dass eine Verwandte von Ihnen bulimisch ist. Denn sie wird diejenige sein, die immer gut aussieht und interessant ist. Es sei denn, Sie erhalten von ihr Logierbesuch über einige Tage oder verreisen zusammen. Aber selbst dann wird es für Betroffene häufig eine Ausnahmesituation sein, in der sie es manchmal schaffen, symptomfrei zu sein. Natürlich nur im Hinblick darauf, dass sie alles in einigen Tagen wieder nachholen können. Vielleicht fällt Ihnen auf, dass sie in letzter Zeit Familienfeiern meidet bzw. erst nach dem Essen auftaucht.

Wenn sich die Mutter vertrauensvoll an Sie wendet, sollten Sie sie entlasten. Es ist jedoch gut zu überlegen, ob Sie diese Informationen nutzen, um mit der Betroffenen darüber in Kontakt zu treten. Nur wenn Sie ihr sehr nahe stehen, z.B. ihre Lieblingstante sind, sollten Sie dies in Erwägung ziehen.

Sollte sich die Betroffene selbst an Sie wenden und offen mit Ihnen reden, dann ist das ein tiefer Vertrauensbeweis. Fragen Sie dann, wie Sie ihre Verwandte unterstützen können, welche Vorstellung sie dazu hat.

Besprechen Sie gemeinsam die Möglichkeiten. Achten Sie darauf, dass Sie echt bleiben in Ihrem Angebot und sich nicht übernehmen. Wenn z.B. zur Debatte steht, dass die Betroffene vorübergehend bei Ihnen wohnen möchte, so sollten Sie dies nur akzeptieren, wenn diese sich gleichzeitig Hilfe holt, d.h. zum Beispiel eine Beratungsstelle aufsucht und sich in ärztliche Betreuung begibt. Dann sollten Sie sich mit den Hinweisen, die für Mütter und Väter gelten, noch einmal besonders vertraut machen.

4.6. Freunde und Kolleg(inn)en

Falls es sie noch gibt, ist noch nicht alles hoffnungslos! Zu Beginn einer Bulimie scheinen die Betroffenen Freunde in großer Zahl zu haben, sie sind ständig verabredet und unterwegs. Genauer betrachtet, finden sich wenig wirkliche Vertraute. Die Kontakte sind in der Regel oberflächlich und kurzlebig. Die alten Freunde werden immer öfter kurzfristig versetzt, Rückrufe per Telefon nicht getätigt, gemeinsame Verabredungen zum Essen vermieden. Je mehr das Leben der Betroffenen von der Bulimie bestimmt ist, desto weniger Platz ist für anderes.

Sie sollten unbedingt versuchen, den Kontakt zu halten. Lassen Sie sich nicht abwimmeln. Wenn Sie den Verdacht haben, dass eine Ess-Störung der Grund für den Rückzug ist, so sprechen Sie das offen an. Bieten Sie an, zusammen zu einer Beratungsstelle zu gehen. Sollte sich Ihr Verdacht bestätigen, so planen Sie Unternehmungen, die nicht im Zusammenhang mit dem Essen stehen. Vermitteln Sie, dass Sie Verständnis haben, aber auch nicht grenzenlos duldsam sind.

Wenn Sie mit einer Kollegin zusammenarbeiten, die ständig nach dem Essen verschwindet und - obwohl sie sehr viel isst - auffallend schlank ist, so könnte sich der Verdacht erhärten, dass sie bulimisch ist. Doch wenn sie nicht von sich aus mit Ihnen das Gespräch sucht und sich Ihnen anvertraut, würden Sie wichtige Grenzen überschreiten, wenn Sie sie darauf ansprechen würden.

4.7. Lehrer(innen)

Bulimie gibt es auch unter Schülerinnen. Doch erkennen werden Sie die Betroffenen kaum. Vielleicht anlässlich einer Klassenreise. Oder jemand wendet sich vertrauensvoll an Sie. Sie sollten sehr umsichtig bei der Kontaktaufnahme sein. Häufig ist es günstiger, allgemein in der Klasse über Ess‑-Störungen aufzuklären und in diesem Rahmen auf Hilfsangebote hinzuweisen. Wenn Sie mit der entsprechenden Altersgruppe von 12- bis 18-Jährigen arbeiten, werden Sie einer Auseinandersetzung mit dieser Erkrankung nicht aus dem Wege gehen können. Unterrichtseinheiten über Ernährung sind kein hilfreiches Instrument, da sie das Thema Ess-Störungen kaum oder überhaupt nicht behandeln. Eine Beratungseinrichtung kann Ihnen sicherlich mit einem Vortrag entweder in der Klasse oder im Kollegium weiterhelfen.

5. Resümee

=> Gehen Sie bei der Konfrontation umsichtig vor, Bulimie ist eine heimliche Erkrankung.

=> Informieren Sie sich über die Symptomatik und die Folgeschäden.

=> Animieren Sie nicht zum Essen oder zu gemeinsamen Mahlzeiten.

=> Spionieren Sie nicht nach.

=> Versuchen Sie, eine Brücke zu Hilfsangeboten zu schlagen, indem Sie Informationsmaterial besorgen.

=> Zeigen Sie deutlich, dass Sie Verständnis haben und sich nicht ekeln (wenn es denn wirklich so ist!).

=> Fordern Sie dazu auf, professionelle Hilfe einzuschalten.

=> Beziehen Sie das Ambivalenzverhalten (»mal hü, mal hott«) der Betroffenen nicht auf sich, verstehen Sie es als inneren Konflikt.

=> Stellen Sie nicht die Themen Leistung und Perfektion in den Vordergrund.

=> Zeigen Sie, dass auch nicht-perfekte Menschen gut leben können.

=> Wenn Sie eine gemeinsame Haushaltsführung haben, trennen Sie die Vorräte und eventuell die Haushaltskasse.

=> Achten Sie auf direkte Kommunikationswege in der Familie.

Quelle: aus „Ess-Störungen – Leitfaden für Eltern, Angehörige, Partner, Freunde, Lehrer und Kollegen“ herausgegeben von BzgA, 51101 Köln

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