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Magersucht - Leitfaden

Magersucht – Leitfaden für Eltern, Angehörige, Partner, Freunde, Lehrer und Kollegen

1. Fallbeispiel

2. Typische Muster und Abläufe

3. Hinweise auf Ursachen und Auslöser

4. Was sollten Sie tun, was vermeiden?

4.1. Mütter

4.2. Väter

4.3. Geschwister

4.4. Partner

4.5. Angehörige (Großeltern, Tanten, Onkel, etc.)

4.6. Freunde und Kolleg(inn)en

4.7. Lehrer(innen)

5. Resümee

1. Ein Fallbeispiel

Iris ist heute 16 Jahre alt. Sie ist ein Einzelkind. Iris hat ein eigenes Zimmer im Haus ihrer Eltern. Sie geht auf das Gymnasium und ist eine sehr gute Schülerin. Ihr Vater ist Arzt mit eigener Praxis, ihre Mutter seit der Geburt von Iris Hausfrau. Früher arbeitete Iris' Mutter als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität. Sie hatte sich zwar ungern dazu durchgerungen, ihren Beruf aufzugeben, aber gemeinsam mit ihrem Mann so entschieden. Außerdem hatte sie so auch mehr Zeit, sich um ihre allein stehende Mutter zu kümmern, die in der Nähe wohnte.

Bis zu ihrem 15. Lebensjahr war Iris ein normalgewichtiges, ausgeglichenes Mädchen. Sie war bei ihren Freundinnen beliebt, ging gern zum Klavierunterricht und in den Schwimmverein.

Dann - vor etwa einem Jahr - begann sie, sich auf vegetarische Kost umzustellen. Viele in ihrer Klasse taten das, die meisten aus ideologischen Gründen. Auch ihre Mutter konnte sie überzeugen, neue Kochrezepte auszuprobieren. Der Vater war zwar nicht begeistert. Er hatte aber in der Woche sowieso kaum Zeit, mit ihnen zu essen. Und am Wochenende bereitete ihm seine Frau schon einmal eine fleischhaltige Extramahlzeit zu.

Im Schwimmverein trainierte Iris inzwischen drei Mal die Woche. Der Trainer begutachtete die Figuren seiner Mädchen sehr kritisch. Auch Iris könnte ein wenig abnehmen. Nur ein bis zwei Kilo weniger täten ihr gut, sagte er ihr. Nun, das sollte für Iris kein Problem sein. Auch ihre Mutter machte häufiger einmal eine Diät und war sehr figurbewusst. Also begann sie, zusammen mit ihrer solidarischen Mutter, eine vierwöchige Frühjahrsdiät.

Ohne Probleme verlor Iris ihre Pfunde. Und das gefiel ihr. Sie hatte zwar manchmal gerade auf das Appetit, was sie nicht essen durfte, aber mit viel Disziplin und Ehrgeiz bekämpfte sie ihre Bedürfnisse. Sie hatte nach zwei Wochen schon zwei Kilo verloren, nach vier Wochen waren es bereits sechs Kilo. Alle sprachen sie darauf an. Stolz berichtete sie, wie einfach es sei, abzunehmen. Und sie nahm sich vor, vorsichtshalber noch einige Kilos, sozusagen als Vorbeugung, zu verlieren. So dünn wie einige aus ihrer Klasse war sie schließlich noch lange nicht.

Ihre Mutter hatte es viel schwerer, abzunehmen. Sie beendete die Diät nach vier Wochen und hatte nur zwei Kilo verloren. Iris wollte zwar weiter Diäten, aber ihre Mutter sagte, es sei nun genug. Iris beschloß daher, einfach weniger zu essen, und reduzierte drastisch die Mengen, die sie zu sich nahm. Nach weiteren drei Monaten wog sie bei einer Größe von 1,65 Meter nur noch 46 Kilogramm. Sie hatte in vier Monaten insgesamt 12 Kilo abgenommen.

Nun fiel auch ihrem Vater auf, dass sie immer schlanker wurde. Er lobte sie wegen ihrer Disziplin und ihres Durchhaltevermögens. Er dachte, dass Iris nun endlich zufrieden und damit das Thema Figur und Gewicht beendet sei.

Für Iris war es noch lange nicht vorbei. Täglich stand sie auf der Waage und vor dem Spiegel. Sie freute sich über jedes Gramm, das sie verlor. Hatte sie einmal leicht zugenommen, ärgerte sie sich dermaßen, dass sie am nächsten Tag einfach überhaupt nichts aß. Obwohl ihr inzwischen alle sagten, dass sie doch jetzt schlank genug sei, fand sie sich noch zu dick. Ihr Bauch, die Oberschenkel! Nein, sie war fest entschlossen, noch dünner zu werden.

Ihre Gedanken drehten sich bald nur noch um das Essen. Sie wälzte Kochbücher, buk unzählige Kuchen, machte vegetarische Aufläufe für die Familie. Ihr Lieblingsplatz war in der Küche. Doch sie aß nichts von dem, was sie zubereitete. Ihre Eltern dachten zwar, dass sie - wenn sie schon ständig in der Küche ist - auch nascht und beim gemeinsamen Essen auch isst, doch das stimmte nicht. Iris behielt das Essen häufig im Mund und spuckte es unbemerkt in die Serviette. Sie täuschte den Eltern vor, zu essen. Doch in Wirklichkeit ernährte sie sich täglich nur noch mit den gleichen Lebensmitteln: zwei Äpfeln, einem Magerjoghurt, einer trockenen Scheibe Brot. Dazu nahm sie Vitamintabletten.

Sie zog sich zwiebelartig an, weil sie ständig fror. Das verhinderte auch, dass ihre Magerkeit gleich auffiel. Beim Schwimmen und im Turnunterricht war es jedoch nicht zu verbergen, so dass sie die eine oder andere Bemerkung zu hören bekam. Aber das bestärkte sie nur darin, dass sie auf dem richtigen Wege sei. Sie wollte ja schlank sein.

Iris ist magersüchtig geworden. Sie fand sich bei starkem Untergewicht noch zu dick, hatte panische Angst davor, auch nur ein Gramm zuzunehmen. Ihre Gedanken drehten sich nur noch um das Essen und ihr Gewicht. Nach einem halben Jahr bemerkte ihre Mutter, dass sich Iris' Zustand und ihre Stimmungen ständig verschlechterten, und schlug Alarm. Zuerst sprach sie mit ihrem Mann über ihren Verdacht, dass Iris magersüchtig sei. Er hatte zwar auch leichte Bedenken. Immerhin hatte er an den Wochenenden mitbekommen, dass Iris sich nicht nur figürlich, sondern auch in ihrem Verhalten sehr verändert hatte. Sie lernte richtig verbissen für die Schule, lud kaum noch Freundinnen ein, war manchmal fast hyperaktiv und schien auch unter Schlafstörungen zu leiden. Er hatte diese Veränderungen jedoch auf die Pubertät geschoben. Und dünn sein wollen doch die Mädchen heutzutage alle. Gemeinsam suchten die Eltern das Gespräch mit Iris. Sie jedoch reagierte aggressiv und wollte nur in Ruhe gelassen werden. Sie fand, dass mit ihr alles in Ordnung sei.

Magersucht, dieses Wort schreckte alle auf. Auch die Oma, die davon gar nichts hören wollte. Sie nahm ihre Enkelin ins Gebet und versuchte, ihr klarzumachen, wie gefährlich das sei. Sie sollte doch wieder ein wenig zunehmen, das sei doch nicht so schlimm. Aber auch sie stieß bei Iris auf Granit. Iris hungerte weiter.

Manchmal überwältigte Iris der Hunger, und sie schlang alles Essbare in sich hinein. Danach erbrach sie alles ganz schnell wieder und war erleichtert, die Folgen ihrer Gier wenigstens ungeschehen machen zu können. Das kam aber höchstens einmal die Woche vor.

Iris' Mutter wusste keinen Rat mehr. Als ihre Ängste immer größer wurden, suchte sie eine Beratungsstelle auf. Iris wusste davon nichts. Als sie es später erfuhr, reagierte sie ärgerlich. Sie habe keine Probleme, und man solle ihr keine einreden.

Iris' Mutter jedoch wusste nun, dass die fehlende Krankheitseinsicht typisch ist, und konfrontierte ihre Tochter mit den Symptomen der Magersucht immer wieder. Zusätzlich ließ sie Informationsmaterial über Magersucht und Beratungsstellen offen herumliegen.

Sofort nach der ersten Beratung verlangte sie von ihrer Tochter, sich regelmäßig in ärztliche Betreuung zu begeben. Und dies nicht bei ihrem Vater, sondern bei einem von der Beratungsstelle empfohlenen Arzt. Sie erklärte ihrer Tochter, dass sie die Verantwortung für deren Gesundheit nicht übernehmen könne und wolle. Der Arzt übernähme dann die Verantwortung für eine eventuelle Klinikeinweisung in einer lebensbedrohlichen Situation, er würde sie auch wiegen und die Folgeschäden ihrer Fehl‑- und Unterernährung behandeln. Unter diesen Voraussetzungen könne sie als Mutter auch aufhören, sie ständig zum Essen zu ermahnen. Iris erklärte sich erstaunlicherweise damit einverstanden und machte selbst innerhalb der kommenden zwei Wochen einen Arzttermin aus.

Die Eltern besuchten eine Angehörigenselbsthilfegruppe bereits, bevor Iris krankheitseinsichtig war. Sie lernten dort, sich gegenseitig zu unterstützen und ihre Tochter zu einer Behandlung zu motivieren. Zunächst wurde ihnen deutlich, welche Zusammenhänge zwischen den Handlungsweisen und Reaktionen ihrer Tochter und der Erkrankung bestehen. Sie begriffen die Nahrungsverweigerung ihrer Tochter nicht mehr als sinnlose Verweigerung und Aggression, sondern als Signal dafür, dass es ihrer Tochter vielleicht nur auf diese Weise möglich ist, bestimmte Konflikte auszutragen und sich eventuell von ihrer elterlichen Behütung freizumachen. Andere leidgeprüfte Eltern konnten berichten, wie sie bestimmte Handlungsweisen verändert hatten und welche Auswirkung dies auf die Tochter/den Sohn hatte. Iris' Mutter litt besonders unter Schuldgefühlen. In der Gruppenarbeit wurde ihr klar, dass die Schuldfrage wohl nie eindeutig zu klären und der Blick zurück im Moment eher lähmend als hilfreich ist. Zusammen mit ihrem Mann lernte sie, das zu vermeiden, was die Krankheit aufrechterhält, z.B. doppelbödige Kommunikation in der Familie ‑- die Vermittlung gegensätzlicher Botschaften in Worten und Verhalten.

Weiterhin vermieden sie Gespräche über Essen und Figur, da dies zu ständigen Konfliktsituationen führte, ebenso das gemeinsame Einnehmen der Mahlzeiten. Hier wurde vereinbart, vorübergehend getrennt zu essen. Der Aufenthalt in der Küche war Iris nur für das Zubereiten von eigenen Mahlzeiten erlaubt. Kochen und backen für andere entfiel. All diese Maßnahmen wurden Iris erklärt und damit begründet, dass Bedingungen, die die Erkrankung ungünstig beeinflussen können, vermieden werden sollen.

Nach vier Monaten - während sie sich bereits in ärztlicher Behandlung befand - kam Iris zusammen mit ihrer Mutter zu einem Beratungsgespräch. Zwei weitere Termine, zu denen Iris auf Wunsch allein kam, halfen ihr, sich zu einer Therapie zu entschließen, und gaben ihr wichtige Hinweise, worauf sie bei der Auswahl der Therapeutin oder des Therapeuten achten sollte. Sie entschied sich für eine Einzeltherapie, die bei Bedarf auch ihre Eltern mit einschließen sollte.

2. Typische Muster und Abläufe

Pubertäre Magersucht ist meist ein Autonomiebestreben der Jugendlichen, ein gewaltsamer Ablösungsprozess vom Elternhaus. Eine übergroße Fürsorge und Liebe der Eltern machen es der/dem Jugendlichen schwer, eigene Erfahrungen zu machen, sich auszuprobieren und zu fühlen. Überfürsorgliche Eltern ebnen alle Wege, räumen Probleme im Vorfeld aus, bieten fertige Lösungen an. Dazu kommt, dass in einem Haus der offenen Türen, wo keiner etwas zu verbergen hat, es schwer ist, sich abzugrenzen. Eine symbiotische Beziehung der Tochter zur Mutter, in der die eine nicht ohne die andere existieren kann, und ein emotional abwesender Vater, dessen Gefühle nicht erkennbar werden, sind typisch für betroffene Familien.

Äußerlichkeiten

Diese Familien wirken nach außen hin wie eine Festung: Alles läuft perfekt und harmonisch. In diesem System ist es zunächst einmal unerklärlich, dass eine so schwere psychische Erkrankung auftreten kann. Doch besonders in einem sehr zudeckenden, harmonischen Klima besteht eine große Gefahr, doppelbödig zu kommunizieren, etwas anderes zu sagen, als was man fühlt. So übernimmt z.B. die Mutter Pflichten mit einem freundlichen Lächeln und fühlt dabei Wut und Ärger, dass sie sich wieder einmal hat überreden lassen. Der Vater hört scheinbar geduldig zu, wenn Tochter und Mutter über ihre Probleme reden, in Gedanken ist er jedoch bei seiner Arbeit. Ein Kind fühlt Stimmungen sehr sensibel, ein magersüchtiges ganz besonders. Wenn die Worte dann nicht zu den Gefühlen passen bzw. etwas anderes vermitteln, wird es unsicher und traut seinen Gefühlen irgendwann einmal nicht mehr. Das Kind lernt: »Ich fühle falsch und glaube an die gehörten Worte, also zählt mein Verstand und nicht mein Gefühl.«

Diese Verunsicherung wird dann besonders groß, wenn zwischen den Eltern zusätzlich unausgesprochene Trennungswünsche existieren. Kinder haben große Angst vor Verlust und Trennung. Sie versuchen häufig, über sehr angepasstes Verhalten die vorhandenen Spannungen zu mildern, und entwickeln schnell das Gefühl, für das Unwohlsein der Eltern verantwortlich und schuldig zu sein. Auffallend ist auch, dass Leistung und Perfektionismus einen hohen Stellenwert in den Familien haben und von beiden Elternteilen vorgelebt werden: Der Vater schont sich nicht bei der Arbeit, macht ständig Überstunden und geht auch noch krank seinen Pflichten nach, die Mutter ist Tag und Nacht im Einsatz, richtet Familienfeste perfekt aus, ist immer freundlich zu anderen, kümmert sich sehr um die Großeltern und achtet nicht auf ihre körperlichen Grenzen. Magersüchtige erhalten häufig Anerkennung über Leistung und sind zwanghaft perfektionistisch. Sie sind in der Regel sehr gute Schüler(innen) und können trotz körperlicher Auszehrung lange ihr Leistungsniveau halten. Sie leugnen ihre Bedürfnisse nach Nahrung, Ruhe, Entspannung und »Faulsein« und überschreiten ständig ihre Grenzen. So fühlen sie sich autonom und unschlagbar.

Darüber hinaus entwickeln Magersüchtige oft utopische Erwartungen. Sie glauben, mit dem Schlanksein alle Lebens-Probleme lösen zu können. Sobald sie dünn sind, so ihre irrige Annahme, sind alle anderen Schwierigkeiten automatisch gelöst.

Charakteristisch ist auch die Entwicklung von Paradoxien. Gemeint ist hiermit zum Beispiel die paradoxe Tatsache, dass die magersüchtigen Frauen das Essen zwar rigoros ablehnen, sich aber dennoch ständig mit Essen beschäftigen. Sie lehnen auch ihren Körper ab, konzentrieren sich aber mit allem Denken und Handeln auf ihn. Sie haben Angst vor dem Normalen, dem Mittelmaß, fürchten aber unendlich, aufzufallen. Sie haben große Angst vor Trennung, fürchten sich aber gleichzeitig vor Nähe, insbesondere vor intimer, sexueller Nähe.

Hinzukommen kann die elterliche paradoxe Botschaft Tochter bzw. Sohn und Kind bleiben zu sollen und gleichzeitig als erwachsene Person eigenständig leben zu sollen.

All dies muss jedoch nicht unweigerlich zu einer Magersucht führen. Ein immer größer werdender Druck besonders für weibliche Jugendliche, schlank zu sein, ist ebenfalls ein wesentlicher Entstehungsfaktor für die Magersucht. Untersuchungen unter dem Motto: »Wie schlank muss ich sein, um dazuzugehören?«, haben gezeigt, dass der »Eintrittspreis« in eine Gruppe von weiblichen Jugendlichen das Schlanksein ist; männliche Jugendliche dagegen müssen sportlich sein. Nur sehr selbstbewusste Jugendliche können sich über diese Gruppennormen hinwegsetzen.

3. Hinweise auf Ursachen und Auslöser

Wie oben dargestellt, liegen die Ursachen der Magersucht im familiären oder soziokulturellen Bereich. Auch traumatische Trennungssituationen, wie der Verlust eines Elternteils oder eines nahen Familienangehörigen, oder ein Schul- und Wohnungswechsel können eine Magersucht auslösen. Wie bei anderen Ess-Störungen können auch sexueller Missbrauch oder sexuelle Übergriffe eine Ursache sein.

Die Modelle zur Entstehung der Anorexie orientieren sich an verschiedenen funktionalen Aspekten:

Modell 1

So versteht eine psychoanalytische Erklärung die Magersucht als eine Form der Abwehr sexueller Wünsche und als Möglichkeit wieder in die scheinbar heile Welt der Kindheit zurückzukehren. Als Beleg für diese Sichtweise wird angeführt, dass durch die Abmagerung der Körper weitgehend wieder dem eines Kindes ähnelt und damit die sexuelle Signalwirkung reduziert wird, ebenso, dass die Regelblutung bei Mädchen ausbleibt.

Modell 2

Ein anderes Modell versteht die Magersucht als einen Kampf um Selbstbehauptung. In der Anorexie verdeutlicht sich das Streben nach Identität, nach Kontrolle des eigenen Lebens. Die in der Kindheit oft überangepassten späteren Magersüchtigen sind von einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem eigenen Leben beherrscht. In der Kontrolle des eigenen Körpers und der Überwindung des Hungergefühls erlebt sich die magersüchtige Patientin/Patient stattdessen als eigenständige Person.

Modell 3

Ein drittes Modell betont schließlich die familiären Aspekte. Anorexie findet sich verstärkt in Familien, die durch ein hohes Harmoniestreben, eine Verklärung des Familienzusammenhalts, den Verzicht auf eigene Bedürfnisse und Opferbereitschaft gekennzeichnet sind. Die magersüchtigen Frauen und Männer lenken durch ihre Erkrankung von anderen Spannungen und Konflikten in der Familie ab. Diese verlieren angesichts des starken Untergewichtes der Betroffenen an Bedeutung und müssen daher auch nicht gelöst werden.

4. Was sollten Sie tun, was vermeiden?

4.1. Mütter

Sie werden durch die Magersucht Ihrer Tochter/Ihres Sohnes wachsen. Wenn Sie die Magersucht als Chance begreifen, Ihr Familienleben und Ihre Rolle zu überdenken, und die Idee loslassen, dass Ihr Kind erst einmal an Gewicht zulegen muss, um gesund zu werden, dann sind Sie auf dem richtigen Weg.

Der erste Schritt ist, dass Sie sich Unterstützung holen. Das kann im Rahmen einer Beratung geschehen, in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige oder in einer Therapie.

Informieren Sie sich ausführlich über die Symptomatik und konfrontieren Sie Ihre Tochter/Ihren Sohn damit. Lassen Sie sich nicht in die Verleugnungsstrategien der Betroffenen mit hineinziehen. Bagatellisieren Sie die Erkrankung nicht, dramatisieren Sie aber auch nicht. Es dauert in der Regel sehr lange, bis ein lebensbedrohliches Untergewicht vorliegt. Erst wenn die 40-Kilogramm-Grenze unterschritten wird, können die körperlichen Folgeschäden bedrohlich werden. Dringen Sie klar und deutlich auf regelmäßige Arztbesuche. Das entlastet Ihre Beziehung zu Ihrer Tochter/Ihrem Sohn. Mischen Sie sich jedoch nicht in die Behandlung ein und zerstören damit nicht das Vertrauensverhältnis zwischen behandelndem Arzt und Betroffener/m.

· Essen Sie getrennt, wenn Sie die Situation unerträglich finden und selbst nicht mehr entspannt essen können. Verbieten Sie der/dem Betroffenen, sich ständig in der Küche aufzuhalten und für andere zu kochen. Sie verschlimmern damit die Situation auf keinen Fall. Erklären Sie Ihre Vorgehensweisen deutlich und handeln Sie dann konsequent und überschaubar.

· Lassen Sie sich nicht auf Gespräche über das Essen, die Essensmengen und das Körpergewicht ein. Machen Sie deutlich, dass die Verantwortung dafür bei Ihrer Tochter bzw. Ihrem Sohn liegt. Alles was Sie dazu sagen würden, wäre sowieso falsch. Stellen Sie sich nicht grenzenlos für Gespräche zur Verfügung.

· Achten Sie darauf, ob Sie wirklich bereit für ein Gespräch, körperlich und seelisch dazu in der Lage sind. Entziehen Sie sich nicht, bestimmen Sie aber die Bedingungen mit. Nur so können Sie sich ehrlich begegnen. Sagen Sie, was Sie fühlen und denken, sprechen Sie über Ihre Befürchtungen und Ängste. Signalisieren Sie auch, dass Sie die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen werden. Magersüchtige sind die Symptomträger, die restliche Familie hat aber durchaus auch etwas mit der Entstehung und Aufrechterhaltung des Symptoms zu tun. Es ist eine Chance für alle, die Beziehungen untereinander neu und befriedigender zu gestalten. Achten Sie ab sofort darauf, dass Sie alle miteinander und nicht übereinander sprechen:

· Sollte der Vater Sie nach der Befindlichkeit der Tochter bzw. des Sohnes fragen, verweisen Sie ihn darauf, sie selbst anzusprechen. Fühlen Sie sich nicht mehr verantwortlich dafür, dass es allen gut geht.

· Nehmen Sie die Befindlichkeit Ihres Kindes nicht als Maßstab für Ihre eigene Befindlichkeit. Es darf Ihnen auch gut gehen, wenn es Ihrem Kind nicht gut geht. Es ist keinem geholfen, wenn Sie mitleiden und auch krank werden.

· Tun Sie etwas ganz persönlich für sich, treffen Sie sich mit Freundinnen, schaffen Sie sich Freiräume, in denen Sie auftanken können. Es klingt paradox, wenn Sie in einer Situation loslassen sollen, in der Ihr Kind so hilflos und bedürftig scheint. Doch nur so können Sie tatsächlich etwas erreichen. Ein/e Magersüchtige/r ist sehr stark und mächtig. Zum Hungern gehört eine große Disziplin und Beherrschung. Die Schwäche Ihres Kindes liegt darin, sich nichts Gutes tun zu können, sich nichts zu gönnen und damit die eigenen Bedürfnisse zu leugnen.

· Geben Sie ein Modell, indem sie beispielhaft zeigen, dass auch Sie bedürftig sind und dazu auch Menschen brauchen; zeigen Sie, dass Sie nicht perfekt sind und Unterstützung annehmen können.

Häufig geschieht es, dass Väter die Erkrankung bagatellisieren und Sie als die hysterische und überängstliche Glucke hingestellt werden. Besonders dann sollten Sie darauf bestehen, dass Ihr Mann mit Ihnen zur Beratung bzw. in eine Selbsthilfegruppe geht, auch wenn er erst einmal nur Ihnen zuliebe mitgeht. Sie brauchen Ihre gegenseitige Unterstützung.

4.2. Väter

Sie stehen sicherlich vor einem großen Rätsel. Ihr sonst so vernünftiges Kind ist selbst mit logischen Argumenten nicht zu überzeugen. Es hungert, obwohl es doch eigentlich essen könnte. Es will es einfach nicht.

Mit Ihrer Frau haben Sie sich darüber auch schon fast zerstritten. Sie sieht das alles zu dramatisch in Ihren Augen. So ganz im Geheimen schleicht sich jedoch auch bei Ihnen Angst ein, und die Sorge um den Gesundheitszustand des Kindes beschäftigt Sie immer mehr.

Väter haben häufig Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass ihre Töchter/ Söhne magersüchtig sind. Diese Erkrankung ist für sie nicht zu verstehen, die Gründe dafür nicht nachzuvollziehen. Und wenn dann ein Mediziner noch bestätigt, dass alle Blutwerte der/des Magersüchtigen noch in Ordnung sind, dann neigen sie schnell dazu, zu bagatellisieren, dies als eine Phase abzutun, die von allein wieder aufhört.

Magersucht sollte unbedingt behandelt werden, therapeutisch und begleitend auch medizinisch. Der erste Schritt, den Sie tun können, ist, dies zu akzeptieren. Informieren Sie sich über die Symptomatik und die Folgeerscheinungen der Magersucht. Konfrontieren Sie Ihre Tochter/ Ihren Sohn mit Ihrem Wissen und Ihren diesbezüglichen Wahrnehmungen.

· Überprüfen Sie kritisch Ihre eigene Einstellung zum Schönheitsideal. Bemerkungen - z.B. beim gemeinsamen Fernsehen über die Figuren der Darstellerinnen - werden von Ihrer Tochter seismographisch aufgenommen. Werden Sie sensibel für ihre Bemerkungen und Äußerungen. Vermeiden Sie, zynisch und ironisch auf Ihre Tochter/Ihren Sohn zu reagieren. Dies ist keine konstruktive Kommunikation. Versuchen Sie, sich mit Ihrer Tochter/Ihrem Sohn über Ihre Wahrnehmungen und Gefühle zu unterhalten, öffnen Sie sich und bauen Sie damit eine Brücke zum Vertrauen Ihrer Tochter/Ihres Sohnes. Vermeiden Sie jedoch die Themen Körpergewicht und Körperformen, erklären Sie Ihrer Tochter/Ihrem Sohn auch, warum Sie dies tun (s.o.).

· Achten Sie darauf, dass Ihre Tochter/Ihr Sohn nicht die Rolle Ihrer Frau übernimmt: Sie kocht für sie, sie ist die bessere Unterhalterin etc. Manchmal bilden sich ungesunde Koalitionen in der Familie: die Tochter/ der Sohn mit dem Vater gegen die Mutter oder die Tochter/der Sohn mit der Mutter gegen den Vater. Eine Spaltung zwischen Ihnen und Ihrer Frau sollten Sie auf jeden Fall vermeiden. Das bedeutet nicht, dass Sie keine unterschiedlichen Meinungen haben dürfen. Wenn es jedoch um das Thema Magersucht geht, sollten Sie sich einig sein und Ihre Tochter/ Ihren Sohn zu einer Therapie motivieren.

· Respektieren Sie, dass Ihre Tochter/Ihr Sohn sich zurückzieht. Es ist ganz normal, dass sie/er die Badezimmertür abschließt und auch für ihr/sein Zimmer einen Schlüssel besitzt. Klopfen Sie immer an, wenn Sie ihr/sein Zimmer betreten wollen. Diese Regel gilt natürlich für alle Mitbewohner.

· Versuchen Sie ab und zu etwas mit Ihrer Tochter/Ihrem Sohn allein zu unternehmen. Es sollte nicht gerade ein Restaurantbesuch sein, den Sie vorschlagen, aber ein Spaziergang, den Sie für ein entspanntes Gespräch nutzen können.

· Falls sich Ihre Tochter/Ihr Sohn zu einer Familientherapie entscheidet, seien Sie kooperativ und sehen Sie es als Chance, für sich selbst und auch für Ihre Partnerschaft etwas zu tun. Viele Eltern berichten, dass sie durch eine Familientherapie wieder zueinander gefunden haben bzw. sich wieder neu begegnen konnten und ihre Partnerschaft dadurch gewonnen hat.

· Ist Ihre Tochter/Ihr Sohn erwachsen und lebt nicht mehr in Ihrem Haushalt, kann das für Sie und Ihre Frau eine Erleichterung bedeuten. Sie werden dann nicht täglich mit dem Leid Ihrer Tochter/Ihres Sohnes konfrontiert und hören meist über Ihre Frau, welche Sorgen sie sich macht. Doch auch hier ist es wichtig, dass Sie sich nicht entziehen oder so tun, als ob Magersucht eine Bagatelle ist. Stützen Sie Ihre Frau, holen Sie sich gemeinsam Rat.

· Nutzen Sie den Vorteil, dass Sie emotional mehr Abstand zu Ihrer Tochter/Ihrem Sohn haben als Ihre Frau. Sie können klarer und sachlicher mit Ihrer Kenntnis über Magersucht konfrontieren und Behandlungswege aufzeigen. Natürlich sollte Ihr Gespräch nicht emotionslos verlaufen. Ihrer berechtigten Sorge sollten Sie durchaus Ausdruck verleihen. Druck jedoch oder die Aufforderung an die/den Betroffene/n, einsichtig und rational zu reagieren, ist nutzlos. Ihr Ziel sollte es sein, zu einer Behandlung zu motivieren.

· Ist die Behandlung eingeleitet bzw. Ihre Tochter/Ihr Sohn in ambulanter oder stationärer Therapie, ist es wichtig, dass Sie dies bejahen. Selbst wenn Ihre Tochter/Ihr Sohn zeitweilig auf Sie sehr aggressiv reagiert oder gar den Kontakt zu Ihnen abbricht, sollten Sie nicht eingeschnappt reagieren. Verstehen Sie die Reaktion als nachträglich vollzogene Ablösung von Ihnen und als Reifungsprozess. Sie können damit rechnen, dass diese Phase vorbeigeht und Sie sich wieder versöhnlicher begegnen werden.

· Mischen Sie sich nie in die Therapie ein. Stellen Sie keine eindringlichen Fragen zum Therapieinhalt oder -verlauf. Warten Sie ab, was Sie von Ihrer Tochter/Ihrem Sohn erzählt bekommen. Nehmen Sie sich zurück und vertrauen Sie auf die Kompetenz der Therapeutin/des Therapeuten. Wenn Sie große Unsicherheiten oder Ängste verspüren, holen Sie sich notfalls Rat in einer Beratungsstelle.

4.3. Geschwister

Eine magersüchtige Schwester oder einen magersüchtigen Bruder zu haben, kann für Geschwister sehr anstrengend werden. Dies ist besonders dann der Fall, wenn sie sich sehr verantwortlich füreinander fühlen. Vielleicht fällt dir erst einmal auf, dass deine Schwester/dein Bruder irgendwie komisch wird und viel über das Essen und ihr/sein Gewicht spricht. Das nervt irgendwann einmal, wird aber auch bei deinem Protest nicht einfach aufhören. Im Gegenteil: Meist verschlimmert sich die Situation mit der Zeit, und deine Schwester/dein Bruder wird dir immer fremder. Auch deine Mutter wird sich verändern. Ihre Sorge wird sich nicht mehr verbergen lassen. Und dann kommt der Punkt, wo die gemeinsamen Mahlzeiten nur noch ein einziger Kampf sind.

Wichtig ist, dass du dafür sorgst, dass du deine Freunde behältst, deine Interessen verfolgst und dich nicht von der magersüchtigen Schwester/dem magersüchtigen Bruder zu stark vereinnahmen lässt. Achte darauf, dass du nur das isst, was du gern magst und auch nur die Portionen, die du für richtig hältst. Lass dich nicht von deiner magersüchtigen Schwester/deinem magersüchtigen Bruder füttern. Sage klar, dass du über das Essverhalten und die Figur deiner Schwester/deines Bruders nicht diskutierst, das hilft nämlich nichts.

Unterstützung

Geschwister sollten unbedingt darin unterstützt werden, ihren Ärger und ihre Wut auch aussprechen zu dürfen. Sie reagieren häufig sehr natürlich und schützen sich damit vor zu starker Vereinnahmung. Wenn Eltern dies unterbinden und verlangen, dass die/der Magersüchtige geschont wird, werden Gefühle unterdrückt, die für die Betroffenen wertvoll sind zu erfahren. Nicht Schonung ist gefragt, sondern ein ehrliches Miteinander-Umgehen.

4.4. Partner

Als Frau/Mann einer/eines Magersüchtigen werden Sie schnell an die Grenzen Ihrer Belastbarkeit gelangen, es sei denn, Ihr Partner/Ihre Partnerin ist chronisch magersüchtig und Sie haben sie/ihn bereits so kennen gelernt.

Eine Magersucht kann in traumatischen Trennungssituationen auch nach der Pubertät ausbrechen. Dies gilt besonders für Menschen, die schon in der Pubertät zeitweise unter Ess‑-Störungen gelitten haben.

Am Anfang

Anfangs werden Sie die Situation eventuell falsch einschätzen. Vielleicht unterstützen Sie die Idee Ihrer Partnerin/Ihres Partners abzunehmen und diäten gemeinsam. Oder Sie hoffen, dass sich das einfach wieder legt und sie bald wieder gemeinsam richtig genießerisch essen können. Wenn Sie ständig Ausreden hören wie: »Ich habe schon gegessen. Ich habe keinen Hunger. Ich esse später etwas.«, sollten Sie hellhörig werden. Wenn sich Ihre Partnerin/Ihr Partner dann noch selbstkritisch über ihre/seine unmögliche Figur und das viele Fett äußert, obwohl sie/er bereits sehr schlank ist, dann müssen Sie reagieren und konfrontieren.

Achten Sie zu zunächst auf Ihr eigenes Essverhalten. Essen Sie wirklich nur, was und wieviel Sie essen möchten. Essen Sie notfalls getrennt. Vermeiden Sie, zusammen essen zu gehen. Sie werden damit nicht erreichen, dass Ihre Partnerin/Ihr Partner wieder richtig isst. Vielleicht isst sie/er Ihnen zuliebe eine Kleinigkeit. Das spart sie/er dann aber mit Sicherheit bei der nächsten Gelegenheit wieder ein.

Schwierig wird es für Sie auch sein, wenn Sie körperlich abgewiesen werden, d.h. Ihre Partnerin/Ihr Partner sich nicht mehr von Ihnen berühren lässt. Magersüchtige haben damit häufig große Probleme.

Manchmal lassen sie sich gern wie kleine Kinder streicheln, z.B. am Rücken oder am Kopf. Alle sexuell eingefärbten Berührungen sind jedoch für sie abstoßend und schwer zu ertragen. Sie hassen ihren Körper, der ihnen ständig Bedürfnisse signalisiert, die sie nicht haben möchten, denn sie wollen unabhängig - auch von ihrem Körper - sein. Paradoxerweise signalisieren sie mit ihrer Magerkeit gerade das Gegenteil. Jeder möchte helfen, beschützen und wärmen. In dem Moment, wo Sie dem Impuls nach Fürsorge nachgeben, kann es Ihnen geschehen, dass Sie auf Ablehnung stoßen. Irgendwann werden Sie dann in Ihren Verhaltensweisen so verunsichert sein, dass Sie sich lieber zurückziehen. Aber das ist keine Lösung. Sie müssen die Gratwanderung machen: Sie müssen Stütze sein und trotzdem loslassen. Sie helfen mit Solidarität, Präsenz und Vertrauen, also einem echten Beziehungsangebot, und schaden mit der Übernahme von Verantwortung, Überfürsorglichkeit und grenzenloser Aufopferung.

Holen Sie sich dabei Unterstützung. Viele Beratungsstellen bieten Beratung und Selbsthilfegruppen auch für Angehörige an.

4.5. Angehörige (Großeltern, Tanten, Onkel etc.)

Schuldfrage

Die Tatsache, dass jemand in Ihrer Familie an Magersucht erkrankt ist, wird Sie sicherlich überraschen. Und dann ausgerechnet dieses kluge Mädchen/dieser intelligente Junge! Der Familie mangelt es doch an nichts. Sie werden Erklärungen suchen und eventuell Schuldige. Vermeiden Sie das unbedingt. Für Magersucht gibt es so vielfältige Ursachen, dass es mühsam wäre, hier zu spekulieren. Und mit Schuldzuweisungen ist niemandem geholfen.

Großeltern haben häufig einen guten Kontakt zu ihren Enkeln und können, vorausgesetzt, dass sie sich über Magersucht informieren, hilfreiche Gesprächspartner sein. Auch andere Angehörige, die der/dem Betroffenen nahe stehen, sollten diesen Kontakt nutzen und nicht den Kopf in den Sand stecken. Sprechen Sie in Ruhe über Ihre Wahrnehmungen und über Ihren Verdacht bzw. Ihr Wissen über die Erkrankung. Bieten Sie Ihre Unterstützung an, z.B. indem Sie zusammen eine Beratungsstelle aufsuchen. Nehmen Sie in Kauf, dass Ihre Konfrontation auf Ablehnung stößt und Sie erst einmal schroff abgewiesen werden. Bleiben Sie freundlich und verständnisvoll. Sprechen Sie immer direkt mit der/dem Betroffenen. Holen Sie nicht hinter deren Rücken Informationen über sie ein. Wenn Sie mit den Eltern sprechen möchten, so reden Sie mit ihnen über Ihre Sorgen und Ihre Ängste. Bieten Sie gegebenenfalls an, dass die/der Betroffene zeitweise bei Ihnen wohnen kann. Das kann für alle eine große Entlastung sein. Überlegen Sie sich aber dieses Angebot sehr genau, denn der Alltag mit einer/einem Magersüchtigen ist sehr anstrengend, weil konfliktreich. Versprechen Sie sich aber nicht davon, die Magersucht so zu heilen. Es kann zwar zu einer kurzfristigen Besserung kommen, eine Heilung jedoch kann in der Regel nur mit einer therapeutischen Behandlung erzielt werden. Nutzen Sie jedoch die kurze Entspannung, um für eine Therapie zu motivieren.

4.6. Freunde und Kolleg(inn)en

Isolation

Magersüchtige isolieren sich im Verlauf ihrer Erkrankung von Freunden. Sie ziehen sich immer mehr zurück und finden viele Ausreden, Verabredungen nicht wahrzunehmen. Sie sind häufig damit beschäftigt z.B. für die Schule zu lernen, und sind trotz bester Leistungen nie mit sich zufrieden. Sie vermeiden es, mit anderen zu essen und fühlen sich ausgeschlossen, wenn z.B. die Clique zusammen essen geht.

Freunde sollten versuchen, den Kontakt nicht abbrechen zu lassen. Wichtig dabei ist jedoch, sich nicht aufzuopfern. Thematisieren Sie Ihre Wahrnehmungen und den Verdacht der Magersucht. Informieren Sie sich über Hilfsangebote und geben Sie diese Informationen weiter. Suchen Sie gemeinsame Gesprächsthemen, die nicht mit Essen und Figur zu tun haben. Sagen Sie, was Ihnen an Ihrer Freundin/Ihrem Freund gefällt. Sprechen Sie über die von Ihnen wahrgenommenen Rückzugstendenzen und Ihre Besorgnis darüber.

Halten Sie auch bei einem längeren Klinikaufenthalt mit der/dem Betroffenen Kontakt. Es ist für sie/für ihn sehr wichtig, bei der Rückkehr aus der Klinik Gesprächspartner zu haben.

4.7. Lehrer(innen)

Besonders Gymnasiallehrer(innen) werden die Problematik kennen. Magersüchtige sind die Klassenbesten, sehr leistungsorientiert und im Allgemeinen sehr beliebte Schüler(innen) - bis zu dem Zeitpunkt, da sie von ihrer Magersucht beherrscht werden. Dann treten Veränderungen ein wie Rückzug, Depressionen, Aggressionen und Weinerlichkeit. Das hohe Leistungsniveau halten sie meist trotz körperlicher Schwäche sehr lange aufrecht.

Die Magerkeit der Betroffenen wird häufig von Sportlehrer(inne)n als Erstes erkannt. Sie sollten dies bei Ihren Kolleg(inne)n ansprechen und unbedingt Ihre Wahrnehmungen austauschen. Sollte sich der Verdacht einer Magersucht erhärten, dann sind Sie gefragt, die Betroffene/den Betroffenen und die Eltern anzusprechen. Voraussetzung ist, dass Sie die/ der Lehrer(in) sind, die das größte Vertrauen der Betroffenen/des Betroffenen genießt! Im Gespräch unter vier Augen sollten Sie mit der Symptomatik und Ihrer Wahrnehmung konfrontieren und zu einer Behandlung auffordern. Bieten Sie Ihre Unterstützung an, z.B. ein Gespräch mit den Eltern einzuleiten oder gemeinsam eine Beratungsstelle aufzusuchen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie auf Ablehnung und Widerspruch stoßen, ist groß. Lassen Sie sich davon nicht abschrecken. Erklären Sie, dass Sie damit gerechnet haben. Es ist nicht leicht, sich einzugestehen, magersüchtig zu sein. Signalisieren Sie Verständnis, aber auch, dass Sie besorgt sind. Empfehlen Sie vielleicht erst einmal einen Arztbesuch. Suchen Sie das Gespräch nach einiger Zeit erneut.

Eine Unterrichtseinheit zum Thema Ess‑-Störungen kann hilfreich sein, die Mitschüler(innen) zu sensibilisieren. Es ist unwahrscheinlich, dass es nur eine/einen Betroffene/n in der Klasse gibt. Meist finden sich mehrere, die mit der Figur und dem Essen Probleme haben. Sie können sehr hilfreich sein, indem Sie das Thema Schönheitsideal und Diäten aufgreifen. Seien Sie aber vorsichtig, wenn Sie selbst Probleme damit haben; Sie können dann rasch unglaubwürdig werden.

Sie sind für viele Schüler(innen) ein Vorbild - auch wenn Ihnen dies nicht bewusst ist. Mädchen berichten häufig im Rahmen der Therapie, dass sie sich an einer/einem Lehrer(in) orientiert haben. Das fordert von Ihnen eine Selbstreflexion, die sehr spannend sein kann. Wie fühlen Sie sich in Ihrem Körper? Wie ernähren Sie sich? Welche Rolle spielt Ihre Figur bei der Stärke Ihres Selbstbewusstseins? Können Sie sich abgrenzen? Welche Suchtverhaltensweisen kennen Sie von sich selbst? Holen Sie sich Hilfe, oder haben Sie den Anspruch, alles allein zu machen?

Sie können therapiebegleitend eine sehr gute Unterstützung sein, wenn Sie den Kontakt zu der/dem Betroffenen so gestalten, dass Sie sich selbst nicht verausgaben und Zeit und Gefühl ehrlichen Herzens anbieten. Konkurrieren Sie weder mit der Mutter/dem Vater noch der Therapeutin/dem Therapeuten. Seien Sie eindeutig solidarisch mit der/dem Betroffenen, machen Sie Mut und zeigen Sie Geduld und Zuversicht.

5. Resümee

=> Überprüfen Sie kritisch Ihre Einstellung zum Schönheitsideal und zu Diäten.

=> Erkennen Sie die Symptome der Magersucht.

=> Konfrontieren Sie die Betroffenen einfühlsam mit Ihrer Wahrnehmung.

=> Dringen Sie als ersten Schritt auf einen Arztbesuch (möglichst eine Empfehlung einer Beratungsstelle), später sollte eine Therapie eingeleitet werden (von der/dem Betroffenen).

=> Halten Sie Aggression und Ablehnung aus und ziehen Sie sich nicht zurück.

=> Achten Sie sowohl auf Ihre Grenzen als auch auf die Grenzen der Betroffenen.

=> Respektieren Sie notfalls einen - erfahrungsgemäß - vorübergehenden Kontaktabbruch.

=> Informieren Sie sich über Beratungs- und Behandlungsmöglichkeiten und geben Sie Ihre Informationen an die Betroffenen weiter.

=> Mischen Sie sich nicht in Arzt- oder Therapeutenkontakte ein.

=> Vermeiden Sie notfalls gemeinsame Essenssituationen.

=> Vermeiden Sie unbedingt Gespräche über das Essen und über das Körperschema.

=> Verbieten Sie den ständigen Aufenthalt in der Küche und das Kochen.

=> Vermeiden Sie Maßnahmen, die die Erkrankung ungünstig beeinflussen können, wie z.B. Überfürsorge und doppelbödige Kommunikation. Stärken Sie die Autonomie der/des Betroffenen.

=> Unterstützen Sie gegebenenfalls die Therapie - nicht durch »Einmischung«, sondern durch grundsätzliches Verständnis - und sehen Sie die Behandlung nicht als Bedrohung.

=> Und: Nehmen Sie die Betroffenen ernst und erklären Sie, warum Sie Ihr bisheriges Verhalten verändern, und bleiben Sie konsequent!

Quelle: aus „Ess-Störungen – Leitfaden für Eltern, Angehörige, Partner, Freunde, Lehrer und Kollegen“ herausgegeben von BzgA, 51101 Köln

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