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Wenn die Seele den Körper zerstört

Magersucht - Wenn die Seele den Körper zerstört

Sie weigern sich zu essen, magern ab bis zum Skelett - oder sie stopfen sich voll und erbrechen heimlich wieder. Und das Tag für Tag.

Magersucht und Bulimie sind schwere psychische Störungen, an denen junge Mädchen und Frauen leiden. Warum? Wer ist gefährdet? Wie sind die Heilungschancen?

Der Text stammt von der MC “Magersucht-Wenn die Seele den Körper zerstört” aus dem ERF-Verlag Schweiz. Der Originaltext liegt in Schweizer Mundart vor und wurde von Esther Wollenschläger ins Hochdeutsche übertragen.

Entschuldigung, darf ich Sie einmal was fragen? - Haben Sie heute morgen schon auf der Waage gestanden? Und? Erleichtert? – Eben doch nicht.  Sehen Sie, ich habe es doch gewusst, gestern abend, der zweite Löffel Tiramisu ist einfach zuviel gewesen. Oder ist es echt die fünfte Erdnuss gewesen. Unmöglich. Erdnüsse haben Sie sich schon lange abgewöhnt. Aber die Folgen von seinem Handeln muß man selber tragen. Darum gibt es heute nur Möhren, Gurken und Kohlrabistückchen und vielleicht noch ein Knäckebrot zum Knabbern. Damit auch Sie wieder Ihr Idealgewicht erreichen. Apropos Idealgewicht? Woher wissen Sie eigentlich, was für sie ideal ist? – Aha. Sie haben es gelesen. Haben Sie übrigens gewusst, dass vor 30 Jahren das Fotomodell nur 8 % weniger gewogen hat als jede gewöhnliche Durchschnittsfrau? Heute wiegen die Mannequin 23 % weniger als der Durchschnitt, also fast ein Viertel weniger. Und das sind dann eben die schönen Frauen, wo man suggeriert bekommt, so müsste man eigentlich aussehen. – Ah, bei Ihnen ist das nicht so, Sie haben selber das Gespür, was schön ist und was hässlich. Darum sind Sie jetzt auch wieder am Abnehmen …. – Wie lang denn schon, wenn man fragen darf? – Die letzten 17 Jahre?! …

Was für viele Frauen harmlos mit einer Diät anfängt, weil man hier und da ein paar Pölsterchen, ein paar Pfunde zuviel zu finden glaubt, wird plötzlich zu einem Fass ohne Boden, zu einem Anfang ohne Ende. Ab einem Punkt wird das Abnehmen, was man sich im Namen der Schönheit auferlegt hat, zur Krankheit, zur Magersucht. Der Übergang vom Abnehmen zur Magersucht ist meistens fließend, passiert unbemerkt. Und irgendwann sind die Gedanken rund ums Essen im Zentrum vom Interesse, nehmen einen voll in Beschlag. Magersucht – für viele junge Mädchen und Frauen ein existentielles Thema, für betroffene Eltern ein tägliches Drama. Wie kommt es zu der Krankheit und warum? Welche Faktoren spielen da mit? Wie sind die Heilungschancen?

Hier sollen diese Fragen aufgegriffen werden. Dazu einige Informationen, ein Gespräch mit der Autorin Dorette Constam, die zur Magersucht ein Buch geschrieben hat und die Geschichte von Elisabeth, einer betroffenen Frau.

Moderatorin: Sie weigern sich zu essen, magern ab bis zum Skelett. Oder sie stopfen sich voll und brechen es heimlich wieder aus. Und das Tag für Tag. Magersucht und Bulimie sind schwere psychische Störungen, die vor allem junge Mädchen und Frauen betreffen. Was versteht man genau unter dem Begriff Magersucht, was unter Bulimie? Dorette Constam erklärt die Begriffe.

Constam: Die Anorexie ist die reine Magersucht, d.h. da fangen die Betroffenen an, sich auszuhungern. Dass sie möglichst wenig essen, das sie vielleicht das Wenige, was sie essen noch irgendwie erbrechen oder mit Abführmitteln loswerden. Meistens sind diese Mädchen auch sehr untergewichtig. Sie fallen nach außen mehr auf, als viele Eß-Brech-Süchtige. Bulimie ist eben Eß-Brech-Sucht. Das ist so, dass die Betroffenen sich vollstopfen mit Nahrung und dann erbrechen – je nach Schweregrad der Krankheit, häufiger oder weniger häufig, und dazu gehören diverse Folgen. Die Betroffenen haben sehr viele Schuldgefühle, sie fühlen sich sehr schlecht bei dem Ganzen. Sie verstecken das nach außen, sie schämen sich enorm.

Mod: Was geht denn in so einem Menschen vor, in solchen Frauen? Es sind ja zu 90 % Frauen. Wie fühlen sie sich?

Con: Es fängt oft so halbbewusst an. Oft ist es so, dass die Betroffenen am Anfang selber nicht wissen, warum sie das so fanatisch betreiben. Es läuft irgendwie einfach ab. Oft gibt es einen äußeren Auslöser – also dass sie meint: „Ich bin eigentlich zu dick.“ Und in unserer Gesellschaft ist der Druck zum Schlanksein sehr groß. Das kann der Einstieg sein. Aber mir scheint es, dass dies nicht der eigentliche Grund ist. Und nachher, wenn die Betroffene erst mal in der ersten Phase der Sucht ist, dann ist es paradoxerweise oft so, dass sie zuerst das Gefühl hat, es sei die Lösung ihrer Probleme. Sie fühlt sich am Anfang also noch gut. Bei den Anorektikerinnen ist das so. Sie haben irgendwie das Gefühl, sie hätten das erste Mal überhaupt ihr Leben im Griff. Es dreht sich dann alles ums Essen. Sie sind irgendwie voll beschäftigt damit, und es läuft irgendwie ab und sie fühlen sich am Anfang gut dabei. Bei der Bulimikerin ist es verschieden. Es gibt auch solche die sich am Anfang gut fühlen, die ihre Spannung erstmal los werden können, vielleicht sind es auch Menschen, die vorher sehr frustrierende Abnehmversuche gemacht haben und jetzt das erste Mal das Gefühl haben: Jetzt kann ich endlich einmal essen, was ich will – bin nicht immer in der Mühle, wo ich mich beherrschen muss. Aber bei ihnen kippt es dann schon sehr bald, sie schämen sich und bemerken die körperlichen Folgen von dem, was sie tun.

Mod: Die Bulimie ist eine versteckte Krankheit, die Anorektikerin sieht man eher. Gibt es Zahlen?

Con: Das ist sehr schwer abzuschätzen, weil, wie gesagt, bei der Bulimikerin geschieht das Ganze sehr oft heimlich und ich schätze, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist. Ich vermute, dass bis zu 10 % der Frauen betroffen sind und der Prozentsatz derjenigen die massive Essprobleme haben, ist sicherlich noch wesentlich höher. Für die es also ein Thema ist, was mit Krampf, Leiden und Komplexen verbunden ist.

Moderatorin: Elisabeth, du hast geheiratet, hast Familie, hast Kinder und hast trotzdem die Eß-Brech-Sucht gehabt und hast damit gelebt. Von außen kann man sich gar nicht vorstellen, dass so etwas geht. Wie sah dein Alltag aus?

Elisabeth: Ich würde sagen, ziemlich gleich wie der Alltag bei jemand anderem. Man wird so erfinderisch im Verheimlichen, das ist eine richtige Kunst. Das zwingt einen ja dazu. Vor allem dann, wenn es nicht das Hauptthema in der Familie ist. Ich denke bei Pubertätsmagersüchtigen ist das anders.

Mod: Also du bist am Morgen aufgestanden, hast gefrühstückt mit der Familie!

Elisa: Ich würde sagen, am Morgen ist es sowieso immer besser gewesen. Die größten Schwierigkeiten hatte ich immer am Abend. Am Morgen hat man irgendwie viel Elan und guten Willen, sich wieder zusammenzureißen und etwa zu ändern, bis zum Mittag geht es dann noch und dann gegen Abend wird es einfach schwierig, weil man doch irgendwie Hunger hat und dann in den unkontrollierten Kreislauf kommt, in den Sog, zu Essen und zu Erbrechen.

Mod: Aber du bist nicht regelmäßig nach jedem Essen Erbrechen gegangen?

Elisa: Zeitweise schon, aber zeitweise auch nicht. Das ist sehr unterschiedlich gewesen und das hat sehr damit zusammengehangen, in was für einer Situation ich gewesen bin. Ob ich gerade verletzt worden bin oder ob ich Schwierigkeiten mit anderen Dingen hatte. Das ist einfach ein Ventil für die Probleme gewesen, eine Art der Problemlösung. Und darum hat das auch sehr in der Intensität variiert.

Mod: Die Magersucht als vermeintliche Problemlösung, so empfinden es die meisten Betroffenen. Wie weit sind aber auch unsere Gesellschaft und ihr verzerrtes Schönheitsideal daran schuld. Ist die Magersucht eine Wohlstandskrankheit, wollte ich von Dorette Constam wissen.

Constam: Es ist natürlich auffällig, dass es vor allem oder sogar ausschließlich in der Wohlstandsgesellschaft vorkommt. Ich denke aber, das hat einen anderen Grund, nämlich, dass die Krankheit erst in einer Wohlstandsgesellschaft wirkt. In einer Gesellschaft, wo man sowieso Hunger hat, hat das Hungern nicht den Signaleffekt, den es hier hat. Und das ist eben ein wichtiger Teil dieser Krankheit – also die Betroffene drückt mit ihrem Körper etwas aus und sendet ein Signal nach außen und die Signale haben eine Wirkung auf die Umgebung – und zwar eine sehr massive Wirkung. Das sieht man auch wenn jemand einen Hungerstreik macht, das setzt enorm unter Druck. Und ich denke das ist ein Teil von diesem System.

Moderatorin: Das Schönheitsideal der Frauen, das „Schlanksein“ – was hat das für ein Gewicht im Zusammenhang mit der Magersucht?

Con: Das ist, glaube ich etwas unterschiedlich. Ich glaube nicht, dass es wirklich die Wurzel des Problems ist. Es ist vielleicht ein Anlass – und bei mir ist das auch so gewesen – ich bin darüber eingestiegen. Ich habe auch das Gefühl gehabt, ich sei eigentlich zu dick und wollte einem Schönheitsideal genügen. Aber das eigentliche Problem oder der Grund, wieso ich mich nicht schön gefunden habe, das hat tiefere Gründe gehabt.

Mod: Das Schlankheitsideal bietet sich vielen Frauen an, um ihr Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Das lässt sich anhand einer Studie belegen, die eine amerikanische Frauenzeitschrift veröffentlichte: Eine überwältigende Mehrheit der befragten Frauen sagte, es sei ihnen wichtiger 10 oder 15 Pfund abzunehmen, als in ihrem Beruf Erfolg zu haben oder ein befriedigendes Liebesleben zu führen. An diesen 10 bis 15 Pfund orientiert sich also das Selbstbewusstsein vieler westlicher Frauen. Eine Welle von Selbsthass hat die Frauen erfasst und ein neuer bedeutender Industriezweig – alles rund um Diät – konnte sich etablieren. Den normalgewichtigen Frauen wird suggeriert, sie seien Versagerinnen. Darum empfinden Frauen Schuld, wenn sie zuviel essen. Bei der Suche nach Gründen und Erklärungen muss man aber auch das persönliche Umfeld der Magersüchtigen berücksichtigen.

Con: Einen großen Teil würde ich in der Familie suchen. Es ist sehr auffällig, dass viele der Betroffenen ganz ähnliche Familienstrukturen erlebt haben. Sie sind sehr oft das brave Kind gewesen – das problemlose, der Sonnenschein sogar – so ein Kind, in welches die Eltern große Hoffnungen gesteckt hatten. Es sind oft auch sehr intelligente Kinder, also äußerlich gesehen gäbe es gar keinen Grund, warum so jemand so ausflippen muss. Aber ich denke, die gute Fassade, das eigentlich gute Leben, ist ein Teil vom Problem. Es gibt nämlich sehr viele, die eine Art Selbstbestrafung suchen, weil sie verwöhnt worden sind oder weil sie viele Privilegien hatten, und nun das Gefühl haben das irgendwie rechtfertigen oder wettmachen zu müssen. Und mit der Selbstzerstörung oder Selbstkasteiung, das ist ja die Magersucht ein Stück weit, kann man sich irgendwie dafür rechtfertigen oder kann man sich selbst bestrafen um das eigene Gewissen zu entlasten. Das ist zum Beispiel ein Grund. Und dann ist es auch oft so, dass die Kinder oft manipuliert werden, z.B. von ihren Müttern, dass da Familienstrukturen herrschen, in denen sehr verdeckt Macht ausgeübt wird und in denen die Kinder sehr beherrscht sind von der Vorstellung, von den Wünschen und Ansprüchen der Eltern.

Mod: Harmonie liegt über anorektischen Familien wie eine wärmende Decke. Auseinandersetzungen kommen gar nicht auf – eigentlich eine Bilderbuchfamilie. In der Regel ist sie intakt, wohlsituiert und leistungsorientiert, mit einem Vorzeigekind, pflegeleicht und problemfrei, vor allem in der Schule. Und ausgerechnet ihnen passiert das: die Tochter wird magersüchtig. Nicht von ungefähr, sagen die Psychologen. Sie reden auch von tatsächlich – oder zumindest emotional – abwesenden Vätern und von Müttern, die eine zentrale Rolle im System spielen.

Con: Das verrückte ist, dass es meistens Mütter sind, die wirklich das Beste für ihre Kinder wollen. Die sich sehr viel Mühe gegeben haben, die vielleicht sogar große Opfer für ihr Kind gebracht haben. Und darum fällt es ihnen auch so wahnsinnig schwer zu akzeptieren, dass ihre Tochter so ein Problem hat und ihnen solche Probleme macht. Dies ist gerade ein Teil des Problems, glaube ich. Es kann auch sein, wenn sich eine Mutter so aufopfert für ihr Kind, dass das Kind sich in seinem Gewissen belastet empfindet oder sich sogar manipuliert fühlt. Es kann z.B. sein, dass das Kind das Gefühl hat, jetzt muss ich es wieder gutmachen zurückgeben, jetzt muss ich mich auch bis zum Letzten aufgeben, um der Mutter zu genügen. Und das ist ein Grund, warum das Kind magersüchtig wird.

Mod: Die Magersucht ist also eigentlich ein Ventil für das brave Kind?

Con: Sehr oft, ja!

Mod: Wie viel hat es aber auch mit der Persönlichkeitsstruktur des Kindes selber zu tun?

Con: Ja, schon sehr viel. Denn sonst würden ja alle Kinder aus einer Familie magersüchtig werden. So muss man schon fragen, warum wird gerade dies Kind magersüchtig? – Es sind sehr oft die Kinder, die ihre negative Seite nie ausgelebt haben. Sie haben oft die Rolle des Vermittlers in der Familie eingenommen. Sie sind oft die gewesen, die geschlichtet haben und ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis haben. Sie konnten es meistens gar nicht vertragen, wenn es in der Familie Streit oder Unstimmigkeiten gegeben hat. Oft ist es in den Familien auch so, dass im Grunde genommen die Ehe der Eltern kriselt. Aber meistens nicht offen – und das sensibelste Kind nimmt am Ersten etwas wahr und versucht die Spannung zu lösen oder den Eltern vielleicht einen Ersatz zu liefern für ihre frustrierende Ehe. Und dann kommt dazu, dass die Betroffenen an sich selbst einen wahnsinnig hohen Perfektionsanspruch haben. Sie möchten im Grund genommen Superfrauen sein. Ein Teil der Heilung besteht darin zu akzeptieren, dass wir alle Grenzen haben, dass wir auch Schwächen haben – Schwächen zuzulassen und zu zeigen – auch Traurigkeit und negative Gefühle zeigen können. Also, sich als Mensch anzunehmen – mit allen Grenzen und Schwächen.

Moderatorin: Die Geschichte von Elisabeth ist in vielem typisch: zuerst ist sie magersüchtig gewesen, dann hat sie – wie 50 – 60 Prozent aller Betroffenen – zur Bulimie, zur Eß-Brech-Sucht gewechselt. Mehr als 10 Jahre lang ist sie Bulimikerin gewesen. Seit ein paar Jahren ist sie geheilt. Zu dem Heilungsprozeß hat für sie aber auch das Nachdenken über die Zusammenhänge gehört.

Elisabeth: Ich bin die Älteste von drei Töchtern gewesen. Mein Vater war Lehrer – er war sehr begabt, vielseitig interessiert und hat sehr viele Hobbys gepflegt. Für mich hat er eigentlich keine Zeit gehabt. Er hätte auch gerne einen Sohn gehabt – und ich bin eigentlich die erste Enttäuschung gewesen. Sonst ist er an ethischen Fragen nicht so interessiert gewesen. Meine Mutter ist Sozialarbeiterin gewesen – sie ist ängstlich gewesen – ist aus frommem Elternhaus gekommen. Sie hat den Vater bewundert von A bis Z. So hat sie eigentlich ihr eigene Persönlichkeit zu Lebezeiten meines Vaters nicht entfalten können. Sie hätte dem Vater gerne einen Sohn geboren – und hat ihn enttäuscht. Sie haben den Streit nie ausgestreitet vor den Kindern – ich habe die Mutter aber oft weinen hören. Mit meinen jüngeren Geschwistern habe ich keinen großen Zusammenhalt gehabt – ich habe mich sehr allein gefühlt. Und vor allem für meine jüngere Schwester, die 15 Jahre jünger ist, habe ich mich sehr verantwortlich gefühlt. Ich bin also von dem Eindruck geprägt gewesen, das falsche Geschlecht zu haben. Und dem Vater habe ich nie genügt. Was immer ich geleistet habe, nie habe ich Lob dafür bekommen, außer wenn ich mal einen Wettbewerb gewonnen hatte – aber sonst hat es dazu nie gereicht. Und eben, Zärtlichkeit, Körperkontakt, das konnte ich von meinem autoritären, strengen Vater nie erwarten. Unterschwellig ist da immer eine große Sehnsucht nach dem verlorenen Vater gewesen! Ich habe immer Geburtstag zusammen mit meiner drei Jahre jüngeren Schwester gehabt – am gleichen Tag – und ich bin nie ein extra Geburtstagsfest wert gewesen. Das hat eine sehr große Bedeutung gehabt und hat mich sehr verletzt. Ich wollte nie werden wie meine Mutter. Die für mich nicht nachvollziehbare Bewunderungshaltung meiner Mutter gegenüber meinem Vater hat mir furchtbare Mühe gemacht. Gleichzeitig habe ich gemerkt, dass sie überhöhte Erwartungen an mich hatte und daran habe ich mich angepasst und habe sie irgendwie versucht zu erfüllen. Mein Vater ist gestorben als ich ungefähr 18, 19 Jahre alt war und ich habe versucht die Lücke des Ehepartners zu füllen. Auf eine gewisse Art habe ich versucht einen Partnerersatz abzugeben, als mein Vater starb.

Elisa: Zu Lebzeiten meines Vaters habe ich mich in einer intakten Familie als Waise gefühlt, das ist auch noch wichtig. Ich bin einfach leer gewesen, maßlos leer und ich habe wahnsinnig Hunger gehabt nach Wertschätzung, nach Anerkennung, nach Liebe und Wärme und auch Verbundenheit. Und ich habe irgendwie mich selber nicht gespürt. Ich habe nur die anderen gespürt – die Mutter und vorher vielleicht auch den Vater, aber vor allem die Mutter. Ich habe mich selber überfordert und habe meine körperlichen Grenzen in keiner Weise wahrgenommen. Ich habe mich verantwortlich gefühlt für alle ringsum, für das Wohl der anderen. Das hat mir gut getan, Verantwortung zu übernehmen für die anderen. Ich habe damit natürlich auch eine Machtstellung bekommen. Und ich habe mich als wichtig empfunden. Was ich gemacht habe, das habe ich so gut wie möglich, eigentlich perfekt machen wollen. Und ich bin sehr streng mit mir selber gewesen – ich wollte gute Leistung für wenig Anerkennung bringen. Und ich wollte außergewöhnlich sein – so habe ich mich auch gefühlt. Ich habe mich auch nach außen außergewöhnlich gegeben, z.B. in der Kleidung.

Elisa: Nach dem Tod meines Vaters habe ich mich einfach mit meiner Figur beschäftigt. Also es hat verschiedene Gesichtspunkte gegeben, die mich dazu bewogen haben – in der Jugend hatte ich Angst so dick zu werden wie eine Tante von mir. Die hat mich einfach abgeschreckt, wie die ausgesehen hat. Und dann natürlich irgendwo das Angepasstsein an meine Eltern und dann nachher der Partnerersatz für meine Mutter nach dem Tod meines Vaters. Und dann der dramatische Tod meines Vaters, der sich das Leben genommen hatte, das hat natürlich auch sehr dazu beigetragen. Ich bin dann im Ausland gewesen und habe Angst gehabt, ich würde zu dick und habe dann angefangen abzunehmen und bin dann auch einige Monate anorektisch gewesen und habe mir einfach alles abgespart aus lauter Angst, ich würde zu übergewichtig. Und noch ein paar Monate – es ist ca. ein halbes Jahr gewesen – dann bin ich bulimisch geworden. Und irgendwo bin ich da langsam reingeschlittert. Das habe ich am Anfang natürlich gar nicht gedacht, dass das mal so wird. Ich habe das als super gute Lösung empfunden, aber habe nicht realisiert, zu was das führt.

Moderatorin: In der Magersucht komm ein großer Selbsthass zum Ausdruck. Bei der Anorektikerin nimmt das sogar selbstzerstörerische Züge an. Dorette Constam hat sich damit auseinandergesetzt.

Constam: Die Wurzeln des Selbsthass sind ein Stückweit in der Familienstruktur zu suchen – das ist dann, so mein Gefühl, oft ein Stück Rache. Wenn man sich selber kaputt macht, kann man sich enorm an seinen Eltern rächen. Also man kann ihnen sehr deutlich zeigen, dass sie versagt haben, zum Beispiel. Und ich glaube, dass es ohne eine Versöhnung mit den Eltern sehr schwierig ist aus diesem Mechanismus herauszukommen. Ein Teil der Selbstzerstörung kann auch sein: Ich wollte nicht werden wie meine Mutter, also den Anteil den ich in mir habe von einer Mutter, den hasse ich und den will ich nicht, den kann ich nicht akzeptieren. Und das dritte ist eben die Persönlichkeitsstruktur – ich glaube, dass alle Perfektionisten ein Stück weit Selbsthass haben. Sie können den Idealen, die sie von sich haben, und den Wahnsinnsmaßstäben, dem Strengsein mit sich, dann doch nicht genügen. Und wenn sie es dann nicht schaffen, dann wollen sie sich umbringen.

Mod: Die Magersucht hat also sehr verschiedene Funktionen für die Magersüchtige selbst.

Con: Ja. Ich will mal beim Körperbild anfangen. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, was man mit seinem Körper signalisiert. Mir scheint manchmal, das der Körper und die Magersucht eine Sprache ohne Worte sind. Man kann z.B. signalisieren: Ich bin am Verhungern – ich brauche etwas – bitte hilf mir. Es ist auf der einen Seite ein wahnsinniger Hilfeschrei und auf der anderen Seite, das ist das Paradoxe daran, heißt es gleichzeitig: bleib mir vom Hals, ich brauche gar nichts von dir – ich nehme gar nichts an – ich genüge mir selber. Ich muss noch nicht einmal essen. Und das ist das Verrückte, dieser Doppelstruktur beizukommen, weil es meistens beides beinhaltet. Das ist so eine Funktion … und dann hat bei mir der dünne Körper die Funktion gehabt, mich zu schützen. Ich hatte ja wahnsinnige Ansprüche an mich selber und habe auch das Gefühl gehabt, die anderen hätten die gleichen wahnsinnigen Erwartungen an mich. Und mit dem dünnen Körper konnte ich irgendwie demonstrieren: He Leute, ich bin eigentlich gar nicht so stark wie ihr meint. Und dann gibt s auch Leute, da ist es ein Schutz vor Sexualität. Denn man kann damit ein Stück Weiblichkeit verhindern.

Mod: Die große Mehrheit der Patientinnen, die heute in der Sprechstunde von Ärzten und Psychotherapeuten auftauchen, sind 13- bis 25-jährig. Die meisten fangen den Nahrungsboykott in der Pubertät an, mit 12 oder 13. Das junge Mädchen beweist zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie Autonomie oder Selbstbestimmung. Die Waage zeigt dann, dass sie – endlich – Siegerin ist. Mit ihrem Hungerstreik kann sie sehr viel Macht ausüben. Die Reaktion der Eltern zeigt das sehr deutlich. Jedes gemeinsame Essen entwickelt sich zu einem Kampf bis aufs Messer. Die Magersucht ist die Unabhängigkeitserklärung eines Kindes, das nicht lernen konnte, sich abzugrenzen. Die nicht erlebt hat, dass sie ein eigenes Wesen mit eigenen Wünschen und eigenen Bedürfnissen ist, die sich wie ein Stück Knetteig formen ließ, die unausweichlich in die von den Eltern vorgegebene Identität hineinwachsen musste.

Moderatorin: Wenn man die verschiedenen Funktionen anschaut, was ist bei dir am Ausgeprägtesten gewesen, warum hast du die Sucht gebraucht, Elisabeth?

Elisabeth: Es ist bei mir schon fast eine Befriedigung gewesen, die Kontrolle über mich selber zu haben. Also irgendwie aus der Verzweiflung heraus, weil ich ja nicht geliebt bin, nicht recht bin – ich schaffe es schon – ihr müsst nicht denken, ich bräuchte Hilfe. Nach außen habe ich stark gewirkt. Und gleichzeitig habe ich mich innerlich sehr miserabel gefühlt.

Mod: Die Frage nach der eigenen Identität ist offenbar etwas, wo Magersüchtige sehr schwer dran zu knacken haben. Wie hast du das erlebt?

Elisa: Ja, ich habe überhaupt nicht richtig gewusst, wer ich bin. Ich habe meine Grenzen nicht richtig wahrgenommen, ich habe wirklich nicht richtig gewusst, wer ich bin. Und ich habe einfach funktioniert. Und ich habe irgendwo erst gemerkt, wer ich bin, als ich  eine Beziehung zu Gott bekam. Da habe ich gemerkt, dass da noch jemand über mir steht, der mir eine Identität gibt, der mich haben wollte. Weil ich ja ringsum erlebt hatte, man wollte mich ja eigentlich nicht.

Moderatorin: Für jede magersüchtige Frau hat die Sucht eine bestimmte Schutzfunktion, sie profitiert bis zu einem gewissen Grad davon. Was kann denn die Motivation sein trotzdem auszusteigen? Welches sind die ersten Schritte zur Heilung? Dorette Constam, auch sie ist magersüchtig gewesen, zu ihrer Motivation:

Constam: Bei mir ist ein ganz wichtiger Punkt gewesen, dass ich mich meiner Situation gestellt habe. Ich habe lange Zeit das Gefühl gehabt, dass geht irgendwann einmal vorbei. Und das ist eine totale Illusion. Ich denke, dass niemand, der nicht bereit ist, an seinen Problemen zu arbeiten – und zwar nicht nur an seinen Essproblemen – sondern auch an dem, was dahinter steckt, dauerhaft aus der Magersucht herauskommt. Allenfalls verschieben sich die Symptome oder sie lernt mehr schlecht als recht damit zu leben. Aber im Grunde genommen kann nur geheilt werden, wer auch die Wurzeln bearbeitet. Und bei mir ist der Punkt wahnsinnig wichtig gewesen, als ich mich das erste mal die Frage gestellt habe: Wie wäre es, wenn du die Magersucht und Bulimie ein Leben lang hättest? Und das hat mich so abgeschreckt, diese Vorstellung, dass ich das erste Mal die Kraft hatte zu sagen: Und jetzt will ich da raus, ohne wenn und aber. Ich hatte natürlich auch vorher Ausstiegsversuche unternommen, wenn man das jahrelang hat, dann probiert man immer mal wieder etwas, denn der Leidensdruck ist sehr hoch. Aber ich habe immer noch irgendwelche Bedingungen gestellt. Und dann ist das der Punkt gewesen, da ich dann gesagt habe: und jetzt investiere ich alles – selbst wenn ich das Studium abbrechen müsste oder wenn ich in eine therapeutische WG müsste – oder was weiß ich – also ich zahle jeden Preis. Und ich denke, die meisten müssen an einen solchen Punkt kommen, wo sie genug haben von allem, dass sie sagen: Ich bin wirklich bereit vieles zu ändern. Denn Veränderungen machen immer Angst und sind mit Arbeit verbunden.

Moderatorin: Ja, so geht’s nicht weiter! Auch Elisabeth musste an diesen Punkt kommen, um ihren ganz eigenen Weg aus der Sucht heraus zu finden.

Elisabeth: Das eine ist sicher, dass ich mich schon ziemlich am Anfang mit christlichen Gedanken auseinandergesetzt habe. Und ich habe Bekannte gehabt, die in der Bibel gelesen haben und selber habe ich auch gelesen. Irgendwo ist immer durch alle Zeit der Gedanke da gewesen, das wenn das alles stimmt, das mir Gott dann helfen könnte. Und daran habe ich irgendwie festgehalten, daneben bin ich auch immer wieder sehr verzweifelt gewesen, weil ich enttäuscht war, dass nicht alles schlag artig weggegangen ist. Und ich habe auch den Wunsch gehabt, dass es einen Schlag geben würde und ich wäre erlöst davon. Ich habe mir das immer so vorgestellt. Und ich habe nie gemerkt, dass ich selber auch einen Schritt dazu tun musste. Und ich habe mir selber überlegt, ja – ich habe ja eine Familie gehabt – ich hatte geheiratet und hatte Kinder und ich habe gesagt, ich will das ganze lösen bevor meine Kinder so groß werden, dass sie alles mitbekommen. Das ist schon auch noch ein Druck gewesen. Ich habe zum Teil auch Angst gehabt, mir Hilfe zu suchen, vor allem im nichtchristlichen Bereich, weil ich Angst hatte, man nähme mir auch noch das Letzte, was mir irgend eine Hilfe sein könnte und würde es als unwirksam oder Einbildung bezeichnen. Der Grund, warum ich dann angefangen habe, also wirklich aussteigen wollte, ist, dass ich einfach gemerkt habe, so geht es nicht mehr weiter. Und ich hatte so genug von dem ganzen Zirkus, dass ich einfach fand: jetzt muss etwas passieren. Ich habe dann eigentlich einen besonderen Weg eingeschlagen. Ich hatte eigentlich nichts mehr zu verlieren. Ich habe ja gewusst, selber habe ich alles ausprobiert und habe es nicht geschafft und es bringt alles nichts. Und zum Psychiater wollte ich nicht. Und dann habe ich gefunden, wenn das wirklich stimmt, das Gott mir helfen kann, dann will ich jetzt einfach vertrauen. Und einmal in einem Vortrag – das Thema war, dass Gott auch zu Vereinsamten redet und das Gott will, dass wir ihm Raum geben. Und da ist mir irgendwie ein Licht aufgegangen. Und irgendwie hat von da alles neu angefangen. Dann bin ich schlagartig bereit gewesen Hilfe anzunehmen. Ich kann das nicht einfach erklären, es ist einfach eine Erfahrung gewesen, die ich gemacht habe und ich würde sagen, das ist eine Erfahrung mit Gott gewesen, der mir einfach die Bereitschaft geschenkt hat. Aber ich habe natürlich nachher dann viele Schritte unternommen, ich habe seelsorgerliche Hilfe gesucht und habe mich den Problemen gestellt und habe dann einen ganzen Weg vor mir gehabt. Aber ich war bereit geworden den Weg der Heilung zu gehen.

Mod: Wie war denn dann der weitere Weg der Heilung?

Elisa: Einmal denke ich, dass ich unter vier Augen mich jemandem anvertraut habe. Und dann habe ich eigentlich verschiedene Sachen geschafft und zwar, zuerst einmal wahr werden vor mir selber und wahr werden vor einem anderen. Und dann diesen Sachen ins Auge zu sehen. Ich habe dann gemerkt, dass Gott ja „Ja“ sagt zu mir und dass ich mir gar keine Sorgen machen muss. Mir ist sehr bewusst geworden wer Gott ist. Ich bin ja auf der Suche nach einem Vater. Und ich habe mich sehr intensiv damit auseinandergesetzt, wie denn der Vater ist. Dass er mich ja gern hat. Ich habe versucht herauszufinden, wie Er mich sieht und dabei habe ich lange Zeit verweilt, weil mir das wohlgetan hat, dass ich gewollt bin. Und dass ich so recht bin und dass ich kein Junge sein muss. Also dass mein Geschlecht richtig ist. Und dass Gott liebevoll ist und barmherzig – vielleicht also gerade anders als bei den Sachen die ich von meinem leiblichen Vater erfahren habe. Ich würde sagen, es ist ein langer Prozess gewesen. Ich begann die ganzen Hintergründe zu erkennen warum das alles gewesen ist und ich bin bereit gewesen die Schritte zu tun und nicht einfach zu warten bis es sich von selber löst. Und ich habe entdeckt, dass ich sowohl Opfer als auch gleichzeitig Täter gewesen bin! Unter Opfer verstehe ich, dass ich verletzt wurde durch das Verhalten meiner Eltern. Und gleichzeitig habe ich ja auch ein Verhalten entwickelt, was sie verletzt hat. Und das verstehe ich als Täter. Ich glaube, da habe ich auch sehr viel Schuld auf mich geladen und ich habe auch angefangen meinen Eltern zu verzeihen. Meiner Mutter zu verzeihen, meinem Vater zu verzeihen. Und ich habe auch gewusst, dass Gott mir verzeiht für das Verhalten, dass ich Ihm gegenüber gezeigt habe. Ich musste eigentlich lernen, was wirkliche Schuldgefühle sind. Ich habe mich ja immer und für jedes schuldig und verantwortlich gefühlt. Und wenn ich es nicht gemacht habe, schuldig.

Mod: Sich das erste Mal jemandem unter vier Augen anzuvertrauen und sich der Wahrheit zu stellen: „Ja, ich bin magersüchtig und ich brauche Hilfe. Ich will gesund werden.“ Sich selber wahrzunehmen und dazu zu stehen, wer ich eigentlich bin, also eine eigene Identität zu finden. Sich selber mit seinen Schwächen und Grenzen anzunehmen und sich die Grenzen auch zuzugestehen und so den eigenen Perfektionismus loszulassen, dann auch zu lernen, zwischen echten und falschen Schuldgefühlen zu unterscheiden. Als Familie kann das heißen, zugeben zu müssen, wir sind alle in das System verwickelt, haben das Spiel mitgespielt. In der Familie kann man lernen – z.B. mit Hilfe einer Familientherapie, miteinander Konflikte zu lösen und die Konflikte als Chance ernst zu nehmen und nicht nur als Bedrohung für die Harmonie, abzutun. So ist es einer Magersüchtigen dann auch möglich, den eigenen Eltern zu vergeben und sich mit ihnen auszusöhnen. Das sind einige der Schritte auf dem Weg aus der Magersucht heraus.

Moderatorin: Für Elisabeth ist es auch ein Weg aus der Einsamkeit heraus gewesen. Dorette Constam, ist das, was Sie erlebt hat, eine typische Erfahrung gewesen?

Constam: Ja, das ist es bestimmt. Elisabeth hat ja vorher von echten und falschen Schuldgefühlen geredet, oder von echter und falscher Schuld. Und ich glaube, die wirkliche Schuld ist auf der Beziehungsebene zu suchen. Also, die wirkliche Schuld ist eigentlich, dass sie gesagt hat, ich komme ohne euch aus. Ich brauche keine Menschen und ich brauche keinen Gott. Ich lebe allein – ich sorge auch allein für mich. Ich glaube, das ist die wirkliche Schuld. Und die Schuldgefühle, die man rund um die Symptome hat, die sind im Grund genommen nur sehr oberflächlich. Aber die Betroffene selber, die haben wahnsinnige Schuldgefühle, weil sie z.B. essen und brechen und wie sie lügen oder stehlen oder so. Aber ich glaube, das ist erst die Oberfläche und das wirkliche Problem ist eher, dass sie sagen: Ich schaffe es alleine und ich brauche niemand und ich will perfekt sein. Und ich akzeptiere nicht, dass ich Grenzen habe, ich akzeptiere nicht, dass ich Schwächen habe, ich will eigentlich eine Super-Frau sein. Ich glaube, es ist ganz wichtig in dem Heilungsprozess, dass man lernt zu dem zu stehen, was man wirklich ist, also, dass man das erst einmal wieder wahrnimmt – sie hat sich ja gar nicht mehr gespürt. Dass sie spüren wollte, wer sie wirklich ist. Und das tut zuerst einmal natürlich weh. Das spürt man dann plötzlich Sachen, die man vorher immer verdrängen konnte. Aber es geht im Heilungsprozess darum, zu diesen Sachen „Ja“ zu sagen. Auch zu lernen zu dem „Ja“ zu sagen, wo ich Grenzen habe, zu dem „Ja“ zu sagen, wo ich schuldig geworden bin. Also, sich mit den ganzen Schwächen anzunehmen, und was auch wichtig ist, das hat sie ja auch gesagt: Lerne „Nein“ zu sagen. Lerne, dass ich Grenzen haben darf, dass ich „Nein“ sagen darf, dass ich sagen darf: das überfordert mich jetzt. Und dass ich auch nicht mehr das Image behalten kann, nach außen immer wahnsinnig stark zu sein, sondern dass ich wage, dieses Image loszulassen. Und ich glaube, dass dieses Image auch Distanz schafft. Also dass danach Beziehungen tiefer werden und näher, wenn man nicht mehr so stark ist nach außen.

Mod: Braucht man unbedingt Hilfe, braucht man jemandem, um daraus zu kommen?

Con: Ich glaube, die meisten brauchen jemanden. Es geht ja in dem Heilungsprozess zuallererst darum beziehungsfähiger zu werden oder überhaupt erst einmal beziehungsfähig zu werden und das kann man ja nicht allein. Ich glaube, das Bild vom Hungerturm drückt das sehr gut aus. Ich baue mir mit der Magersucht eine Welt auf, wo ich für mich sorge, wo ich selber zuständig bin, wo ich niemanden dran lasse, wo ich mich selber schütze. Also alles selber. Ich setze mir irgendwo das Lebensziel falsch, also das Lebensziel das ich alleine zurechtkommen muss und allein perfekt werden muss. Aber ich denke, das Lebensziel von Gott her – und ich merke, dass das auch dem Leben entspricht, ist ja, dass wir in Beziehungen leben – in warmen, herzlichen Beziehungen. Ich lebe ja in der Nähe zu Menschen und zu Gott. Und das wir auch uns Liebe lehren. Also das Ziel ist die Liebe und die Liebe bedeutet immer einander anzunehmen mit allen Schwächen, mit allem Nicht-Perfekten, mit allem Unabgeschlossenem.

Moderatorin: Vielleicht kennen Sie jemanden in der Familie oder in ihrem Bekanntenkreis, die magersüchtig ist und fragen sich jetzt, wie Sie sich richtig verhalten können.

Ganz falsch ist: auf die Kranke einzureden und sei es noch so verständnisvoll. Flehentlich zu bitten doch mehr zu essen, nützt eben so wenig wie Drohungen und Gewichtskontrolle. Die Antworten sind immer geschicktere Täuschungsmanöver und noch mehr Widerstand. Sinnvoller ist es, sich zügig nach qualifizierter Hilfe umzusehen. Familien- und Suchtberatungsstellen können meistens Ärzte und Therapeuten mit spezialisiertem Wissen vermitteln. Zur Therapie überreden kann man allerdings niemanden. Man kann höchstens Tipps geben oder Vorurteile abbauen, mehr nicht. Nur wer freiwillig in eine Behandlung geht, hat ein Chance; und freiwillig geht nur jemand, wenn der Leidensdruck größer ist als das, was die Magersüchtige aus der Krankheit zu profitieren glaubt. Eltern von minderjährigen kranken Töchtern sollten ihre Tochter trotzdem einem spezialisierten Arzt oder Therapeuten vorstellen. Seine Kunst besteht dann darin, behutsam ihre Motivation zu wecken. Erwachsene Magersüchtige und Bulimikerinnen finden den Weg in die Therapie häufig leichter mit der Unterstützung einer Selbsthilfegruppe. Dazu noch mal Dorette Constam:

Constam: Die Familie ist so in das ganze verwickelt und fester Bestandteil des Systems, das es für die Familie wahnsinnig schwer ist, da noch therapeutisch einzugreifen. Die Familie lässt sich viel zu leicht manipulieren von dem Symptom und wird enorm unter Druck gesetzt. Und dann würde ich den Eltern vor allem raten, dass sie ihren Teil am Ganzen bearbeiten. Also z.B. wenn sie Ehekonflikte haben, in der das Kind immer den Vermittler gespielt hat, dass sie anfangen den Ehekonflikt zu lösen oder dass eine Mutter die praktisch nur von ihrem Kind und für ihr Kind gelebt hat, dass sie anfängt selber zu leben, dass sie anfängt ihre eigene Person zu entwickeln. Eben so, dass das Kind nicht mehr für sie leben muss. Man kann den Kommunikationsstil in der Familie verändern. Oft ist es in den Familien so, dass man gar nicht wirklich aufeinander hört, dass man im Grunde immer so tut, als wüsste man schon, was der andere meint und was er will. Man denkt und redet immer für den anderen. Das ist für die Betroffenen sehr frustrierend, weil sie sich selbst gar nicht äußern kann und sich gar nicht spüren kann. Sie hat immer das Gefühl: Im Grunde genommen werde ich manipuliert und gesteuert. Und solche Dinge kann man schon angehen. Manchmal hilft es, wenn sie mit anderen Betroffenen, auch ehemalig Betroffenen reden kann. Sie haben immer Angst, niemand könne sie verstehen, weil sie so bizarr und komisch nach außen leben. Darum haben sie das Gefühl, dass gar niemand sie verstehen kann, die das nicht auch erlebt haben. Und dann hilft es sehr, wenn man sagen kann: Du – es gibt in deinem Fall Leute, die das verstehen.

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